Die Listensammlerin
gezogen war, schaltete ich abends, wann immer meine WG -Mitbewohner nicht zu Hause waren, das Radio ein, auch wenn ich las, Musik, Stimmen, Jingles, Nachrichten, denen ich nicht bewusst lauschte, sondern sie als ein einziges Geräusch wahrnahm, eine Unstille, die mich vor Heimweh bewahren sollte. Manchmal half es. Ich lese also an jenem Abend im Bett, ich habe meine Listen schon gemacht und werde langsam müde, den einen oder anderen Satz lese ich bereits zweimal, weil ich ihn beim ersten Lesen nicht verstanden habe, bis Frank plötzlich laut sagt: «Nicht schon wieder, bitte nicht schon wieder», so laut, dass ich ihn klar und deutlich höre, obwohl sie sich, dem vorangegangenen Gespräch nach zu urteilen, nicht im Schlafzimmer nebenan, sondern unten in der Küche befinden. «Laut» und «Frank» sind schwer im selben Satz unterzubringen, ich horche automatisch auf. Nicht sorgenvoll, weil meine Eltern sich streiten, sondern neugierig. Das hellhörige Haus macht es meiner Neugierde leicht.
«Es ist doch nur, weil es der Jahrestag ist», sagt meine Mutter. «Da musste ich dran denken.»
«Ich will das nicht hören. Lass uns das Fass nicht noch mal aufmachen. Nicht schon wieder. Nicht nach all den Jahren. Ich mach das nicht mit.» Frank spricht laut und deutlich und vor allem bestimmt, aber auch ein bisschen verzweifelt. Ich höre ihn noch etwas murmeln und Sekunden später seine Schritte auf der Treppe: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht – fünfzehn Stufen, Frank nahm immer zwei auf einmal. Er geht ins Bad, und weitere Schritte auf der Treppe höre ich nicht.
Ich lege mein Buch beiseite, schalte das große Licht aus und meine Fischlampe ein, Fische, die auf einem blauen papiernen Lampenschirm im Kreis schwimmen, immer nur im Kreis, immer dieselben elf bunten Fische, Frank hatte mir die Lampe gekauft, als ich sechs war und überzeugt davon, Blaubart könne mich jede Nacht holen kommen (Frank hatte mir zuliebe seinen Bart abrasiert, da mir Männer mit Bärten im allgemeinen damals Angst machten). Ich liege da und phantasiere, erfinde eine Geschichte zu dem rätselhaften Dialog. Das Leben meiner Eltern erschien mir damals – ich war in einer Phase, in der ich entweder Abenteuerbücher oder Berichte von spektakulären Expeditionen las – stinklangweilig: Frank mit seiner Uni, meine Mutter mit ihren Schülern, sie beide und der olle Tolstoj, ihre Freunde Klara und Wilfried, die jeden Freitagabend kamen, Wilfried zum Schachspielen und Klara «zum Ratschen», wie sie sagte, ein Wort, das meiner Mutter gefiel, «Die Männer spielen Schach, und wir ratschen», wiederholte sie und rollte das «r» dabei, Theater, Kino, Essen beim Griechen und seltener beim Italiener, und ganz viel ich. Wenn ich groß wäre, wollte ich kein Kind, um das ich mich kümmern müsste, ich wollte frei sein und die Welt erkunden wie Roald Amundsen oder wichtige Dinge ausgraben wie Heinrich Schliemann. Mein damaliges zwölfjähriges Ich ist also von dem Dialog weder verstört noch beunruhigt, sondern vielmehr fasziniert. Hatte einer der beiden eine heiße Affäre gehabt? (Ich weiß zwar nicht, was genau eine heiße Affäre sein soll und was sie von einer normalen Affäre unterscheidet, aber es klingt vielversprechend.) Ein Jahrestag, was war an dem Tag passiert? Ich denke über das Datum nach, mir fällt nichts Besonderes ein. Ich bin so vertieft in die Ausschmückung meiner Geschichte, in der meine Mutter sich unsterblich in einen Griechen verliebt hat (Grieche, weil sie Frank immer damit aufzog: Wenn er dies oder jenes nicht macht, dann verlässt sie ihn für Manolis, den Wirt) und Frank vor Eifersucht tobt, dass ich gar nicht wahrnehme, wie meine Mutter inzwischen heraufgekommen ist und sich beide inzwischen im Schlafzimmer befinden. Umso mehr überrascht mich ihre klare, wenn auch leicht verheulte Stimme durch die Wand: «Du sagst, ich soll das Fass nicht wieder aufmachen, aber ich habe es nie geschlossen. Die Schuld frisst mich auf, Frank, jeden Tag ein Stückchen mehr von mir.» Meine Mutter hatte schon immer ein Faible für eine blumige Sprache, die nicht immer passte und manchmal ihre Wirkung verfehlte, weil sie die Zuhörer zum Lachen brachte (weshalb ich schon damals die «Liste der lustigen Deutschfehler meiner Mutter» führte). Jetzt aber lacht Frank nicht, er sagt auch nichts, zumindest nichts, das ich hören kann, weil ich nur noch das Schluchzen meiner Mutter höre, die weint, wie ich sie noch nie hatte weinen
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