Die Listensammlerin
hören: wie ein Kind, das verlorengegangen ist und nach seiner Mutter sucht, verzweifelt, verängstigt irgendwie. Sie heult eine ganze Weile, das Schluchzen wird zu einem Stakkato, das mir nun Angst macht, ich setze mich auf und schalte das Licht wieder ein. Meine Mutter ist ein emotionaler Mensch, der selbst bei rührseligen Werbespots ein paar Tränen vergießt, aber schluchzen habe ich sie noch nie gehört. Ich will gerne zu ihr gehen, traue mich jedoch nicht, und irgendwann wird sie etwas leiser, und ich höre wieder Franks beruhigendes Gemurmel, und ein paar Minuten später höre ich, wie meine Mutter ins Bad geht und das Wasser läuft, und irgendwann schlafe ich ein.
Die Erinnerung geht am nächsten Morgen weiter: Beim Frühstück, Frank liest Zeitung, meine Mutter brät uns gerade unsere Eier, es war ihr schon immer ein essenzielles Bedürfnis, uns ein substanzielles Frühstück auf den Tisch zu stellen (Franks Wortlaut, nicht meiner), weshalb wir die Eier oder den Grießbrei unwillig, aber unwidersprochen jeden Morgen aßen (dieses Bedürfnis sei ihr sowjetisches Erbe, sagte Frank), beim Frühstück also frage ich. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich es am besten formulieren soll, und bin zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen, deshalb frage ich einfach: «Mama, warum hast du gestern geweint?» Ich beobachte sie genau, damals also schon mein Drang, das Unausgesprochene hinter dem Gesagten zu erkennen – war ich als Kind schon neurotisch, oder zwang mich meine Familie dazu? Sie steht mit dem Rücken zu mir am Herd und rührt gerade die Eier, sie bleibt so stehen und rührt weiter, aber ihr Rücken spannt sich sichtlich an.
«Ich? Geweint? Wann?»
«Gestern Abend. Als ich schon im Bett lag.» Dass ich das Gespräch mit angehört habe, unterschlage ich, ich habe es zwar nicht belauscht, zumindest nicht mit einem Glas, das ich an die Wand gehalten hätte, nicht durchs Schlüsselloch oder durch den Türspalt, fühle mich aber dennoch schuldig. Das Schluchzen war aber wirklich nicht zu überhören gewesen.
«Gestern Abend habe ich nicht geweint», antwortet meine Mutter und betont das «Gestern», als hätte ich mich im Tag geirrt. Ich blicke zu Frank, der in die Zeitung blickt. Es hat nichts zu heißen, wenn Frank Zeitung liest, das ist jeden Morgen so.
«Aber ich habe es doch gehört», fahre ich fort.
«Vielleicht hast du den Fernseher gehört. Wir haben gestern einen Film geschaut, war es dir zu laut?», sagt meine Mutter und richtet sich an Frank. «Wir müssen den Fernseher leiser stellen, wenn wir abends noch was schauen, Frank. Sofia kann sonst nicht schlafen.»
«Ja», erwidert Frank, ohne aufzusehen.
Sie lehrten mich, besser nicht zu fragen.
Erinnerung zwei: Ich bin vielleicht fünfzehn, sechzehn, auf jeden Fall schon fast erwachsen. Ich bin krank, nur eine fiese Erkältung, gerade so schlimm, dass ich nicht zur Schule gehen kann, aber nicht so schlimm, dass ich im Bett liegen müsste. Um genau zu sein, liege ich auf dem Bett und vervollständige und aktualisiere in Ruhe alte Listen, endlich habe ich Zeit dazu.
Liste der Dinge, die ich über meinen Vater weiß
1 . Name: Alexander (genannt: Sascha) Grigorjewitsch (Patronym) Ljubimow (heißt etwas mit Liebe).
2 . Geboren: 1947 in Moskau, U d SSR (jetzt Russland und andere Staaten).
3 . Beruf: Ingenieur im Maschinenbau.
4 . Lernte meine Mutter über Freunde bei einer Geburtstagsfeier kennen.
5 . Heirat mit meiner Mutter: 1969 . Bei der Hochzeit anwesend: Familie und Freunde, insgesamt ca. 35 Gäste. Gefeiert wurde bei Großmutter zu Hause.
6 . Er wollte, dass ich Anna heiße, meine Mutter setzte sich durch. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte ich Andrej geheißen (beide einverstanden).
7 . Er hat sich sehr über meine Geburt gefreut, da meine Eltern schon lange Kinder wollten. Er wollte aber nur mich (kein weiteres Kind, fand mich toll).
8 . Tod: 1973 , ich war sieben Monate alt. Starb bei einem Autounfall auf dem Heimweg von der Arbeit. Betrunkener Autofahrer im Lada Zhiguli. Starb noch am Unfallort. Wurde in Moskau begraben.
9 . Lieblingsessen: Borschtsch, Frikadellen, russische Torte «Napoleon» (Blätterteigtorte, mit Buttercreme gefüllt).
10 . Lieblingsbeschäftigung: lesen (auch Tolstoj, aber nicht so sehr wie Mama), denken (über Gesellschaft und Politik), spazieren gehen.
11 . Lieblingstier: Katze (hatte mit Mama eine, sie hieß Marta, war grau mit braunen und schwarzen Sprenkeln, vor allem
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