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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Komisch, dass ihnen kein anderer Ort einfiel, er wüsste so viele. Nur hatte er niemanden zum Küssen. Toscha zu küssen stellte er sich allerdings abartig vor. Dann lieber gar nicht. Ihm reichte das Mondlicht. Der Bruder drückte Toscha wieder an den Apfelbaum, ob das nicht wehtat, fragte er sich, die Rinde muss doch kratzen, sie trug ein leichtes Sommerkleid, sein Bruder war fast zwei Köpfe größer als sie und hatte breite Schultern, aber es schien sie nicht zu stören, sie fuhr mit ihren Händen über seinen Nacken und durch die Haare. Sie schmatzten beim Küssen. Das klang witzig, die Stille der Nacht und das vom Hochhaus abgeschwächte Brummen der Autos auf der Straße, und dazwischen Schmatz-Schmatz, Schmatz-Schmatz. Sie hörten kurz auf, ohne sich loszulassen, sein Bruder flüsterte etwas, «Ich liebe dich» vielleicht, sie lachte auf und streckte ihm ihr Gesicht entgegen, das hätte er ihr gar nicht zugetraut, so forsch. Grischa war beeindruckt. Er wartete noch ein paar Minuten, bevor er hinaufging, den Müll nahm und ihn zum Müllschlucker brachte. «Braver Junge», kommentierte sein Vater, als wäre er fünf Jahre alt. Die beiden würden bald heiraten, ganz klar.
    Er selbst wollte nicht heiraten, niemals. Er wollte auch keine Freundin. Julia aus seiner Klasse hatte er einmal geküsst, noch zu Schulzeiten, einfach so, weil alle das wollten, Mädchen küssen, alle seine Freunde sprachen davon, und deshalb tat er es, ihnen und der eigenen Gemütsberuhigung zuliebe, es war nicht amüsant. Er hatte noch mitten im Kuss gedacht, nein vielmehr gewusst, dass er keine Freundin wollte, Julia war verletzt und wütend gewesen, weil er sie nie wieder küsste, sie nicht ins Kino einlud und auch nicht zu einem Spaziergang. Die gesamte Klasse fühlte mit, niemand konnte es verstehen. Julia war schön, eine richtige Schönheit, vielleicht das schönste Mädchen, das er kannte. Er sah sie gerne an, er lachte gerne mit ihr und brachte sie gerne zum Lachen, nur küssen mochte er sie nicht. Erklären wollte er das nicht, Julia nicht, die ihn nicht mehr grüßte, woraufhin ihn keines der Mädchen mehr grüßte, auch nicht seinen Freunden, auch nicht seiner Schwester, die Gerüchte hörte. Er wollte es noch nicht einmal sich selbst erklären. Wenn sie fragten, zuckte er geheimnisvoll mit den Schultern, später hörte er, wie jemand erzählte, Julia habe ihn erwischt, wie er eine andere, viel ältere Frau küsste, eine, die er vor allen geheim hielt. Er zuckte noch einmal mit den Schultern und grinste – dass ihn Geheimnisse und Gerüchte wie Mücken umschwärmten, war nicht neu und machte ihm größte Freude.
    In der Pause, Penkin war nach einem fast anderthalbstündigen Vortrag tatsächlich mit seinen Ausführungen über die Vorteile eines demokratischen, freiheitlichen Regierungssystems, die sie alle kannten, fertig gewesen, woraufhin alle, ohne eine Frage zu stellen, nach draußen stürmten, stand der Junge mit den schönen Händen allein im Hof und rauchte. Er hatte sich etwas abseits von den anderen hingestellt und blickte auch in die entgegengesetzte Richtung, als würde er Ausschau nach etwas halten, wie ein Jäger im Wald, er blickte dabei auf graue Betonbauten, das einzige Tier, auf das er hoffen konnte, war ein Straßenköter. Um die anderen kümmerte er sich nicht, als bräuchte er keine Gespräche, keine neuen Freunde. Das imponierte Grischa.
    «Wie heißt denn der da?», fragte er in die Runde und zeigte mit dem Kinn in dessen Richtung.
    «Sergej. Der ist neu. War letzte Woche auch schon da, du hast ihn verpasst. Er ist schüchtern, schweigsam», antwortete Alissa, die direkt neben ihm stand. Er hatte ihr seine Jacke angeboten, augenfällig, alle hatten es registriert. Regina hatte den Mund verzogen. Jetzt fröstelte es ihn.
    «Ich gehe mal zu ihm. Stell mich vor.»
    Er schlenderte hinüber, er wusste, er hatte einen lässigen Gang, «unabhängig» hatte seine Schwester ihn einmal genannt. Die Beschreibung gefiel ihm.
    «Hallo, Sergej!» Er hatte sich neben ihn gestellt, und der andere hatte leicht überrascht zu ihm heruntergeblickt, er war groß, einen Meter fünfundachtzig vielleicht. Er lächelte leicht, eigentlich nur mit einem Mundwinkel.
    «Hallo!»
    «Ich bin …»
    «Du bist der, den sie hier den Riesenkombinator nennen. Habe ich mir gleich gedacht, als ich dich gesehen habe. Dir gehen viele Geschichten voraus.»
    «Ach, du hast schon von mir gehört. Ich von dir noch nicht.» Er fühlte sich gleich

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