Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
eine normale, keine schlanke, aber auch keine vollschlanke Figur hatte, und immer ein ehrliches, freundliches Lächeln im Gesicht. Sie sprach nicht viel, aber mehr als sein Bruder, weniger wäre auch nicht möglich gewesen. Wenn die beiden zu zweit waren, redeten sie dann miteinander? Wer sprach? Und worüber? Sie sah sich gerne Filme an, sie mochte Liebesfilme, und sein Bruder führte sie ins Kino aus, sprach er mit ihr anschließend über die Filme? Er hatte sie schon zweimal beim ausgiebigen Küssen erwischt; erwischt, ohne dass sie ihn erwischten, sie standen im Innenhof an den Apfelbaum gelehnt, auf der Seite des Apfelbaums, die nur von der Wohnung des Hauswarts aus zu sehen war. Das Licht in der Wohnung des Hauswarts brannte nicht, er hatte sein tägliches Soll schon getrunken und lag wahrscheinlich bewegungslos auf dem Diwan, sie küssten sich lange. Küssten sich richtig, nicht nur ein bisschen. Kostja und Tanja küssten sich auch so, selbst wenn er und andere dabei waren, aber Kostja und Tanja waren Kostja und Tanja, und Tanja redete sogar über Sex, woraufhin Hasenkopf immer nervös zu lachen begann, aber sie waren auch die Einzigen, die er kannte, die laut darüber sprachen. Toscha hatte mit ihren Händen (gewöhnliche Hände, nicht besonders schön) in seinen Haaren gewühlt, ihm über den Nacken gestreichelt, er drückte sie an den Baum, seine Hände waren irgendwo hinter ihr verschwunden, an ihrem Rücken, an ihrem Hintern, unter ihrem Rock vielleicht. Grischa hatte sich heruntergeschlichen, weil er sie vom Fenster aus hatte kommen, aber nicht ins Haus gehen sehen, er hatte am hinteren Ausgang gestanden und die schmatzenden Geräusche gehört und so viel gesehen, wie im Mondschein eben zu sehen war – der Hauswart hatte die Glühbirne in der Laterne immer noch nicht ausgewechselt, was den beiden unter dem Apfelbaum gerade recht kam –, und nach ein paar Minuten war er wieder hinaufgegangen, damit sie ihn beim Erwischen nicht erwischten. Später, im Bett, hatte er seinen Bruder gefragt: «Wo wart ihr so lange, Toscha und du?» Sein Bruder lag mit dem Rücken zu ihm, drehte sich auch nicht um, sagte nur: «Im Kino», und mehr nicht.
    «Und danach? Was habt ihr danach gemacht?»
    «Spazieren.»
    «Und danach?»
    «Nichts.»
    Nach einer kurzen Pause hatte er sich doch getraut und gefragt: «Küsst ihr viel?», ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Es kam auch keine. Der Bruder schlief, vermeintlich.
    Er hatte die nächsten Tage gelauert, abends am Fenster gelesen, was er sonst nie tat. «Warum liest du am Fenster?», hatte die Schwester gefragt, er wusste, was nun kam.
    «Einfach so. Eigentlich ist es ziemlich unbequem, hier zu sitzen», hatte er geantwortet, aber es war zu spät.
    «Ich möchte auch am Fenster lesen!», hatte Anastasia verkündet, einen Stuhl zum Fenstersims geschoben und war heraufgeklettert, er zog die Beine an, damit sie Platz hatte, sie setzte sich gegenüber, strahlte ihn an und machte ihr Buch da auf, wo ordentlich das Lesezeichen steckte, Grischa las noch zwei Seiten pro forma und sprang dann herunter, so hatte das keinen Sinn. Einmal hatte er sie noch ertappt, zwei Abende später, als seine Schwester seiner Mutter in der Küche half, er entdeckte sie bereits an der Straßenecke, sie gingen schnell und schweigend, sein Bruder blickte einmal nach oben, sah ihn aber nicht, er hatte sich klugerweise hinter den Vorhang gestellt. Sie verschwanden im Haus, er wartete genau fünf Minuten, ob sie heraufkommen würden, bevor er ihnen folgte. Sie kamen nicht.
    «Wo gehst du hin?», rief ihm der Vater hinterher.
    «Luft schnappen. Bin gleich zurück.»
    «Gehst du etwa rauchen?» Seine Mutter trat in den Flur.
    «Nein. Will nur an die frische Luft.»
    «Nimm den Müll mit», rief der Vater, da war er mit einem Fuß schon vor der Tür.
    «Später. Wenn ich zurück bin. Versprochen!» Er schloss die Tür hinter sich, bevor er noch mehr hören konnte. Manchmal erdrückten sie ihn, obwohl er sie wirklich, von ganzem Herzen, mochte. Meistens erdrückten sie ihn. Er fragte sich, ob es den Geschwistern und Freunden ähnlich ging, er fragte sie das nicht direkt, er wollte nicht schon wieder auffallen, immer war er anders, das war nicht immer schön. Nicht immer gut.
    Sie standen wieder am Apfelbaum, die Glühbirne war noch nicht ausgewechselt worden, was nicht überraschte und auch nichts machte, sein Bruder und Toscha waren froh über den Schutz der Dunkelheit, sonst stünden sie nicht dort.

Weitere Kostenlose Bücher