Die Listensammlerin
halte ihr die Liste hin. Auch sie kennt die fünfzehn Punkte sicher auswendig.
«Du hast eigentlich alles aufgeschrieben», sagt sie. Wie immer.
«Aber gibt es nicht eine Geschichte, nicht irgendeine Eigenschaft, die ihn ausgemacht hat?»
«Er war ein sehr ruhiger Mann. Sehr ruhig und wahnsinnig nett. Sehr großzügig, hilfsbereit. War immer für seine Freunde da, bis in den Tod.»
Ich seufze innerlich, weil ich all das schon weiß, nicht nur als Tatsache, sondern auswendig, wie ein Gedicht, als Nächstes wird sie sagen: «Und er hat viel nachgedacht. Sich große Gedanken über die Welt gemacht, das Wesen des Menschen, vor allem aber über die Gesellschaft und das politische System. Und mit dem politischen System der Sowjetunion stimmte ja eine Menge nicht, wie du weißt. Das haben nur damals nicht viele erkannt.» Ja, weiß ich, von Frank. Aber das alles sagt sie heute nicht, was mir erst später auffällt, weil ich mich eigentlich schon von dem Gespräch verabschiedet habe und überlege, wie ich diesen kurzen Verschwesterungsmoment auf meinem Bett (auf meinem! Bett!) beenden könnte, ohne sie vollends vor den Kopf zu stoßen. Ich bemerke das Zögern, mit dem sie die folgenden Worte spricht, als würde sie nach ihnen suchen, weshalb ich im letzten Moment dann doch aufhorche: «Also natürlich nicht wörtlich, nicht wörtlich ‹bis in den Tod›, meine ich. Er ist nicht deshalb gestorben, meine ich. Ich meine natürlich einfach immer, also immer, bis er eben gestorben ist. Er ist ja bei einem Autounfall ums Leben gekommen.»
Letzteres fügt sie hinzu, als wüsste ich das nicht.
Sogleich wird sie von Frank sprechen, ihrem «Glück im Unglück», von Frank, der in Moskau für seine Dissertation geforscht hatte, aus Interesse und Überzeugung, Interesse an der russischen Kultur und Literatur und da insbesondere an Lev Nikolajewitsch Tolstoj, und aus der Überzeugung, das kommunistische System sei besser als das kapitalistische, einer der wenigen westlichen Wissenschaftler in der Sowjetunion. Gleich wird sie erzählen, wie sie Frank bei einem Vortrag über Tolstoj, wo auch sonst, kennenlernte, Frank, der voller Ideale war, die sie nicht teilte, weil die Ideale mit ihrer Realität so gar nichts gemein hatten, auch wenn sie die Ideen dahinter im Schulunterricht gelernt und im Studium wiederholt und im Alltag nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Aber wenn Frank nicht von diesen Idealen sprach, dann sprach er von Tolstoj, was ihr imponierte, er sprach Russisch und über Tolstoj, und noch mehr imponierte ihr, dass er mit ihrer Tochter, also mit mir, in einem Ton sprach, der die Tochter immer zum Grinsen brachte, und dass er sie bäuchlings auf seinen langen, kräftigen Unterarm zu legen wusste, dass sie sich dann beruhigte, selbst wenn sie zahnte und eigentlich tagelang nur schrie. Sogleich wird sie sagen, dass Frank sie der Sowjetunion «errettete», wie sie es nennt, dass er damals, in den Siebzigern, als niemand die Sowjetunion verlassen konnte, sie und ihre Mutter «errettete», denn ihr Vater, mein Großvater, war an Krebs gestorben, noch bevor ich das Licht dieser Welt erblickte, und zwei Frauen und ein kleines Mädchen allein in der Sowjetunion … Jedenfalls «errettete» Frank sie, und wie jedes Mal werde ich mich von ihrer Wortwahl unangenehm berührt fühlen. Vielleicht war es auch der Zeitpunkt dieser Erzählung, der mich störte, die sie immer zum Besten gab, sobald sie eine der wenigen Äußerungen über meinen Vater machte. Als täte sie Frank damit ein Unrecht, meinen Vater überhaupt zu erwähnen, auch wenn Frank nie dabei war. Aber von dieser routinemäßigen Reihenfolge weicht sie nun ab, indem sie abrupt aufsteht – «Ich muss mal nach der Hühnersuppe schauen, sie kocht auf drei» – und hinauseilt, ohne die Teetasse mitzunehmen, und ich bin erst mal erleichtert, lehne mich in die Kissen zurück, blättere weiter, und erst später, als ich wegdöse, fällt es mir wieder ein, das «bis in den Tod» und «natürlich nicht wörtlich bis in den Tod».
Die dritte Erinnerung ist kurz: Meine Mutter wurde an der Brust operiert, ein Knoten, der sich als gutartig herausstellte, die Aufregung war umsonst gewesen, die Brust hat ihr nie wieder Beschwerden bereitet. Frank ist auf einer Konferenz, und ich bin in meinen allerersten Semesterferien zum ersten Mal zu Hause zu Besuch, ein Widerspruch in sich, und sitze nun im langen Krankenhausflur, während sie operiert wird. Es dauert eine halbe Stunde
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