Die Listensammlerin
länger, als der Anästhesiearzt vorausgesagt hat, doch meine Sorge hält sich in Grenzen, weshalb ich die halbe Stunde dazu nutze, um mich zu fragen, ob ich eine schlechte Tochter bin, ob ich nicht mehr empfinden sollte. Ich gehe den Flur auf und ab, weil ich meine, dass Menschen, die sich um ihre Angehörigen, gar um ihre Mütter Sorgen machen, immer den Krankenhausflur auf und ab gehen. Die freundliche, aber hässliche Schwester – sie hat eine bemerkenswert krumme Nase, als sei diese mehrmals gebrochen worden – teilt mir mit, meine Mutter liege im Aufwachraum, die Operation sei gut verlaufen, ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen, es sei alles in Ordnung, und wieder meldet sich das schlechte Gewissen, denn Sorgen hatte ich mir nicht gemacht. Ich hole mir unten in der Cafeteria einen Kaffee und ein aufgebackenes, trockenes Croissant, und als ich wieder nach oben komme, befindet sich meine Mutter bereits auf ihrem Zimmer, «noch ziemlich benebelt, aber eigentlich wach», wie mir die Schwester versichert. «Noch ziemlich benebelt, aber eigentlich wach» stellt sich erst einmal als schlafend heraus, wie ich sehe, als ich das Zimmer betrete. Meine Mutter schläft, und auch ihre Zimmernachbarin schläft, also hole ich das Buch, das ich für eine Seminararbeit lesen will, heraus und setze mich auf den abgewetzten Stuhl neben ihrem Bett.
«Grischa, Grischa», murmelt meine Mutter. Ich bin in den schwerverständlichen Text vertieft – die meisten Texte im Studium verstand ich kaum und liebte es dennoch, sie zu lesen, weil ich mir dann wichtig vorkam, schon als Kind hatte ich Franks wissenschaftliche Bücher gewälzt und «arbeiten» gespielt – und höre sie nicht sofort. Ich reagiere erst, als ihre Rufe lauter werden, sie klingt, wie meine Großmutter früher geklungen hat, wenn ich komplett verdreckt und nass nach Hause kam und meine Großmutter schon die nächste Grippe mit zur Tür hereinspazieren sah: «Sofia, Sofia, nicht schon wieder.»
«Grischa, Grischa, Grischa, Grischa, Grischa», murmelt meine Mutter, ihre Augen bleiben geschlossen, sie liegt ganz ruhig auf dem Rücken und bewegt sich nicht, nur der Tonfall wird immer kläglicher, fast verzweifelt, «Grischa, Grischa, Grischa», wie eine Litanei. Und zwischendrin einmal: «Grischa, was machst du denn?», so viel Russisch verstehe ich.
«Mama?», frage ich und ziehe vorsichtig an ihrem Arm.
Sie reagiert eine Sekunde lang gar nicht, bevor sie zusammenzuckt, so wie man manchmal beim Einschlafen zusammenzuckt, schlägt die Augen auf, blinzelt, erkennt mich augenblicklich, lächelt schwach, aber gegenwärtig, sagt: «Hallo.»
«Hallo!», sage auch ich.
Erinnerung vier: Paris, Centre Pompidou, vielmehr ein Café gegenüber, wir sitzen im zweiten Stock, es mutet französisch an und ist natürlich trotzdem touristisch: Blümchenvorhänge, einfache Gläser mit ein, zwei Feldblümchen in der Mitte der Tische, Stühle mit Plastikbezug, manche im Orange der Siebziger, andere mit Blumen bedruckt, meiner mit Teddybären. Echte Bücher in den Regalen an den Wänden. Charmant wie «Die fabelhafte Welt der Amélie». Meine Mutter, meine Großmutter und ich sitzen zusammen um einen Tisch. Meine Mutter, meine Großmutter und ich sind in Paris, das haben wir mir und meinem spontanen Sinn für Familienromantik zu verdanken, der wenig mit der Familienrealität zu tun hat. Nun sitzen wir in diesem Café, wo alles leicht und französisch wirkt, es aber nicht ist. Es ist deutsch-unentspannt und ein wenig russisch-verkorkst. Die Reise habe ich ihnen zu Weihnachten geschenkt, nachdem Flox und ich von einem sehr schönen und entspannten Wochenende in London mit seiner Familie zurückgekommen waren, es war lustig und angenehm gewesen, und ich hatte mich gefragt, warum wir das nie machten, und dann hatte ich noch gedacht, eine Drei-Generationen-Reise, wie nett, und was für ein einfaches, schnell erledigtes Weihnachtsgeschenk, richtig nachgedacht hatte ich aber nicht, sonst säßen wir jetzt nicht hier in diesem charmanten französischen Café und fühlten uns alle drei fehl am Platz. (Es wurde unsere erste und unsere letzte Reise zu dritt, denn auch wenn meine Mutter auf dem Rückweg mehrmals den Wunsch äußerte, diese Reise zu wiederholen, und meine Großmutter eifrig nickte und ich einfach schwieg, so war meine Großmutter bereits wenige Monate später zum Reisen nicht mehr fähig, nicht einmal die U-Bahn-Fahrt zu meinen Eltern konnte sie allein unternehmen.) Noch
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