Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
festhalten, das Nichtswissen und das Nichtshören, aber da kam alles wieder zurück, und ich setzte mich ruckartig auf. Es war schon nach elf, Flox hatte Anna sicher zur Kita gebracht, ich zwang mich aus dem Bett und suchte mein Handy, keine Nachrichten, meine Großmutter war offensichtlich weiterhin, ja, wo sie weiterhin war, wusste ich nicht. Draußen war es diesig und trüb, der Asphalt schimmerte dunkelgrau, es hatte geregnet, und meine Großmutter in diesem Regen, mit oder ohne Gehhilfe auf dem Weg wohin? Ich hatte nicht zu fragen gewagt, ob ihre Gehhilfe noch im Zimmer stand, in ihrem leeren Zimmer, aus dem sie verschwunden war, willentlich weggelaufen, obwohl ihr schon lange niemand mehr einen Willen zugetraut hatte. Ich hatte ebenfalls nicht zu fragen gewagt, ob sie ihr Nachthemd getragen hatte über der Windel, ich stellte sie mir im Nachthemd vor, sie war ja schon bettfertig gemacht worden. Ich stellte mir meine Großmutter in ihrem schlichten weißen, abgetragenen, spitzenbesetzten Nachthemd (hatte sie das noch aus der Sowjetunion mitgebracht?) ohne Gehhilfe im Regen vor und hielt diese Vorstellung nicht aus, also drückte ich zwei Tasten auf dem Telefon und klemmte es zwischen Schulter und Ohr, weil ich die Hände zur Kaffeezubereitung brauchte.
    Sie nahm beim ersten Klingeln ab, und ich erschrak über ihre Stimme, die so schnell in mein Ohr gedrungen war, dass ich Kaffeepulver verschüttete und einen Fluch ausstieß, woraufhin sie berechtigterweise fragte: «Was sagtest du gerade?», und dann, besorgter: «Sofia, ist alles in Ordnung?»
    «Ja. Hatte nur nicht gedacht, dass du zu Hause bist.»
    «Warum rufst du dann hier an?», wollte sie wissen, logischerweise, und ich hatte keine Antwort und Kaffeepulver auf dem Tisch anstatt in der Maschine, meine alzheimerkranke Großmutter war aus dem Altenheim weggelaufen, mein Kind hatte nur ein halbes Herz, ich schrieb nicht mehr und war auch sonst irgendwie nicht mehr ich. Ich fand keinen Schwamm, um das Kaffeepulver wegzuwischen, und wusste mit alldem nicht besser umzugehen, als meine Mutter anzuranzen: «Viel wichtiger ist doch die Frage, warum du zu Hause bist. Was machst du da? Warum machst du denn nichts?», und ich betonte das «machst» und das «du» und das «nichts».
    Sie war nicht beleidigt, fragte mich nur, als hoffte sie tatsächlich, ich hätte eine hilfreiche Idee: «Was könnte ich denn machen? Die Polizei meldet sich, wenn sie was weiß. Frank und ich sind noch zwei Stunden die Straßen um das Heim abgelaufen. Frank ist auch vor einer Stunde in die Maistraße gefahren, um zu sehen, ob sie vielleicht doch nach Hause gefunden hat.»
    «Sie wird nicht nach Hause gefunden haben. Das ist absurd. Sie wusste nicht, wo ihr Zimmer ist, wie soll sie da die zwei richtigen Straßenbahnen nehmen?»
    «Ja. Ich weiß nur nicht, was ich sonst tun kann.»
    «Was du tun kannst, ist mit der Heimleitung reden! Wie kann es sein, dass sie sie entwischen lassen? Wie kann es sein, dass ihnen erst um Mitternacht auffällt, dass jemand von den», fast hätte ich «Insassen» gesagt, ich biss mir wortwörtlich auf die Zunge und fühlte mit dem Finger nach, ob sie nicht blutete, «von den Bewohnern einfach verschwindet? Ich meine, sie ist eine alte Frau, die kaum laufen kann!» Und dass ich sie so beschrieb und wie meine Mutter «sie» gesagt hatte, obwohl sie über ihre Mutter sprach und ich über meine Großmutter, half mir, mich auf die Kaffeezubereitung zu konzentrieren, drei Löffel Kaffee, ein großes Glas Wasser, ich mochte Filterkaffee aus Überzeugung, nicht aus Faulheit, Ein-Schalter, wo war denn jetzt bitte dieser Schwamm?
    «Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Aber ich glaube, dass es», sie machte eine Pause und suchte nach einem Wort, «ein Unfall war. Ich glaube, dass die alles richtig gemacht haben. Der Direktor hat sich gestern Nacht ja auch schon sehr entschuldigt. Das ist doch ein Altenheim in Deutschland.»
    Ich registrierte es sofort und schnappte mir einen Kugelschreiber vom Tisch und sah erst da, dass Flox mir eine kurze Nachricht hinterlassen hatte, Anna gehe es gut, er bringe sie in die Kita, ich solle mich melden, wenn ich wach sei und/oder sobald ich etwas gehört habe, ich schrieb direkt darunter «Altenheim in Deutschland», das Altenheim unterstrich ich zweimal. Das würde auf meine Liste kommen.
    Zwei Listen führte ich zu diesem Themenkomplex, seit Jahren schon. Die eine hieß tatsächlich nur «In Deutschland». Wenn meine Mutter

Weitere Kostenlose Bücher