Die Listensammlerin
weggehen? Wohin?» Grischa holte tief Luft, um ruhig zu werden, so wie er es von Tanja gelernt hatte, die ihn Yoga lehrte, er hatte in letzter Zeit auch zu Hause verstärkt Yogaübungen gemacht, und seine Mutter machte sich wieder Sorgen, weil sie Yoga für Quacksalberei (im besten Fall für Zirkusakrobatik) hielt. Er konnte nun wirklich nichts dafür, dass sie sich um alles Sorgen machte, was er tat. Er hatte ernsthaft versucht, ihr zu erklären, was Tanja ihm erklärt hatte, Atmung, Philosophie, Vereinigung, Seele, Spiritualität, aber sie hatte gleich abgewunken, und da half auch die konzentrierte Atmung nicht, er hatte die Tür zugeknallt und war gegangen und erst am übernächsten Abend wiedergekommen. Am übernächsten Abend hatte er seiner Mutter Blumen mitgebracht, Tulpen, obwohl noch Winter war, und sie hatte nicht gefragt.
«Wir werden zu meiner Mutter ziehen. Nach Jakutsk. Bald. Wenn …», sie überlegte, wie sie es formulieren sollte, und er verstand es wieder nicht, verstand nicht, warum alle sich solche Mühe gaben, es nicht zu sagen, als würde man den Tod hinauszögern können, indem man ihn nicht erwähnte. «Wenn Mama Andrej nicht mehr so sehr braucht, werden wir gehen», sagte Toscha. Eine neue Formulierung, er hatte in den letzten Wochen viele gehört, aber diese noch nicht. Kreativ.
«Dann geht ihr weg? Für immer?» Er versuchte, es sich vorzustellen. Sein Vater nicht mehr da, Andrej nicht mehr da. Seine Mutter, seine Schwester und er, und wenn Sascha oder er in Saschas Namen Anastasia gefragt hatte, nur noch seine Mutter und er. Er würde nicht heiraten, er würde bleiben, bleiben müssen. Würden sie die beiden Zimmer behalten können? Die Frau von Nikolaj Petrowitsch erwähnte immer häufiger ihre Nichte und deren Mann, die gerne nach Moskau, in die große Stadt ziehen wollten, sie brauchten noch eine Bleibe.
Er wollte gehen, weil er nichts sagen wollte, auch nichts hören wollte.
«Ja. Wir müssen von hier weggehen.»
«Ihr müsst? Warum müsst ihr?»
«Wegen dir», und Toscha sah ihm in die Augen, als sie das sagte.
«Wegen mir?»
«Andrej sagt, wir müssen ihn», und sie nickte zu Timoschka, «von dir fernhalten. Er soll nicht neben dir aufwachsen. Du tust ihm nicht gut, niemandem tust du gut.»
Er sagte nichts, er wartete ab.
«Die Kinder lieben dich. Alle Kinder lieben dich», sagte sie, und wie um das zu beweisen, streckte Timoschka ihm seine pummeligen Ärmchen entgegen, grinste ihn an. Sie drehte ihn wieder um, sodass er über ihre Schulter in die Küche blicken musste, sodass er seinen Onkel nicht liebgewinnen konnte.
«Aber ihr bringt ihn nicht von mir fort. Ihr bringt ihn von seiner Großmutter fort. Mama braucht ihn. Gerade jetzt braucht sie ihn. Siehst du das denn nicht?»
Und als hätte Toscha darauf gewartet, als hätte sie sich die Antwort zurechtgelegt, kam es wie aus der Pistole geschossen: «Ja. Leider. Das wollen wir nicht. Aber das müssen wir. Wegen dir. Du nimmst ihr ihren Enkelsohn weg, nicht wir.»
Sprach da Andrej oder dessen Frau mit ihm? Er wusste es nicht und wollte es nicht wissen, obwohl Toscha ihm diese Frage beantwortete, ohne dass er sie stellte. «Andrej sagt, wir müssen Timoschka vor dir schützen. Andrej sagt das, dein eigener Bruder, und er liebt dich wirklich sehr.»
Er war schon im Treppenflur und hatte die ersten zwei Stufen auf einmal genommen, weil er nicht auf den Aufzug warten wollte, als er hörte, wie die Tür, die er trotz allem nicht zugeknallt hatte, wieder aufgesperrt wurde.
«Grischa?»
Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
«Ich will das nicht. Ich tu das für den Kleinen. Mir tut Mama leid. Aber du liebst Timoschka doch auch. Willst du nicht, was gut für Timoschka ist?»
Klar liebte er seinen Neffen, den er kaum kannte und nicht kennenlernen würde. Achttausend Kilometer. Zwei Nachtzüge, dann noch mit dem Lastwagen. Was blieb seiner Mutter, wenn sein Vater starb und Timoschka weg war und auch sein Bruder? Er konnte nicht alle ersetzen, er schaffte es noch nicht einmal, ein guter Sohn für sie zu sein. Grischa lief schnell die Treppe hinunter, und die letzten vier Stufen übersprang er, so wie früher als Kind. «Du brichst dir noch die Nase», hörte er seine Mutter sagen, sie hatte recht behalten. Einmal hatte er sich dabei die Nase gebrochen.
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Dreizehntes Kapitel
Ich wachte auf und wusste kurz nichts. Ich streckte mich unter der Decke, horchte, hörte nichts und wollte das gerne
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