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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Geburtstag» dazu gesagt. Und weil sie nicht verstand (zu verstehen, dass sie es tatsächlich nicht verstand, dazu hatte ich Jahre gebraucht), dass ich das Spielzeug jetzt und zum Geburtstag eine Überraschung haben wollte, hatte mich Frank an jedem Geburtstag überrascht, und sie verstand immer noch nicht. «Frank, sie hat doch schon was bekommen von mir. Vor zwei Monaten schon. Du verwöhnst sie!» Medikamente bewahrte sie in der Kühlschranktür auf, und alle Essiggurken- und Marmeladengläser hob sie auf, und da sie von Tupperware lange Zeit nicht viel hielt, transportierte sie auch Kartoffelsalat für Feste in den Gläsern, meist liefen sie aus, weil sie nicht mehr richtig schlossen. Für Suppen nahm sie mittlerweile Tupperware. Die wenigen Worte, die sie auf Englisch wusste, hatte sie ebenfalls aus der Sowjetunion mitgebracht: «shoes», «apple» und «disc». Riga und Tallinn waren für sie noch immer «dort», und mit «dort» meinte sie auch zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion genau diese. Die Liste war viereinhalb engbeschriebene Seiten lang, und im Nachhinein staunte ich darüber, dass vier Seiten erst dazugekommen waren, nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, um zu studieren. Der erste Punkt, für den ich die Liste aufgesetzt hatte, war das Spucken beim Bügeln gewesen. Bis mich eine Freundin, offensichtlich angeekelt, gefragt hatte: «Warum spuckt deine Mutter denn?», hatte ich angenommen, so bügele man eben. Nichts stellte ich als Kind in Frage, und deshalb hatte ich der Liste im Laufe der Jahre in meiner Schülerschrift nur sieben weitere Punkte hinzugefügt, ich nahm meine Mutter hin, wie sie war, und stieß ich auf Widrigkeiten, war Frank sogleich zur Stelle, der sie mir – möglichst ohne meine Mutter im Raum – erklärte, und jedes Mal fügte er hinzu, das sei ihr sowjetisches Erbe, und dieses sowjetische Erbe nahm ich noch ein paar Jahre hin, bis ich auszog. Bei Lauchzwiebeln verwendet man die grünen Stängel gar nicht, die schmeißt man weg, lernte ich unter anderem nach ein paar Tagen in meiner WG , während Mutter nichts wegschmiss, weil sie aus einem Land kam, in dem sie alles zurückgelassen hatte, außer der Überzeugung, Lebensmittel nicht wegschmeißen zu dürfen, weshalb sie den Schimmel vom Käse schnitt und auch Lauchzwiebeln komplett verwendete. Meine Liste füllte sich zügig und war auch meine Lieblingsliste in meinem ersten Jahr in Hamburg, und wenn ich sie damals besuchte, versuchte ich, meine Erkenntnisse über Deutschland netterweise an sie weiterzureichen, aber sie war an meinen Erkenntnissen nicht interessiert und hörte mir nicht zu, während sie die grünen Stängel in kleine Ringe schnitt.
    «Sie ist weggelaufen. Sie wird von der Polizei gesucht. Aber der Direktor hat sich entschuldigt, wie nett! Das Tor stand offen! Sperrangelweit offen!»
    «Das Tor war kaputt.»
    «Ja, aber es ist ihr Job», und wen ich mit «ihr» meinte, hätte ich nicht sagen können, wiederholte es dennoch, «ihr Job, verdammte Scheiße noch mal, das zu tun!»
    «Sofia!» (Und ach ja, das hatte ich vergessen, auch wenn es, schon bevor ich ausgezogen war, auf meiner Liste stand, Schimpfwörter und Flüche hasste sie, weil sie aus der Arbeiterschicht in die Intelligenzija aufgestiegen war und Tolstoj zitieren konnte und die Intelligenzija angeblich nicht fluchte, sondern eben große Dichter wie Tolstoj zitierte – so meine Mutter, und an Franks Blick sah ich, dass er sich dessen nicht so sicher war. Einmal hatte sich Frank nach einem «Scheiße!» und nach dem «nicht in diesem Haus» in sein Arbeitszimmer begeben und seine Bücher gewälzt, vielleicht die zur Alltagsgeschichte der Sowjetunion oder eines zu Idiomen in der Sowjetunion, und versucht herauszufinden, ob die Intelligenzija tatsächlich nicht fluchte. Er hatte nichts herausfinden können.)
    Ich dachte an Frank, der Bücher wälzte, um so etwas herauszufinden, aus Interesse, nicht weil er musste (seine Zeit war das imperialistische Russland), an Frank, der gestern von meiner Mutter festgehalten werden musste oder zumindest sie nicht festhalten konnte, an sein fahles, plötzlich gealtertes Gesicht, und fragte, auch um den Streit zu beenden: «Wo ist denn Frank?»
    «Hier. Neben mir. In der Küche. Er sitzt am Esstisch.»
    «Gib ihn mir mal», sagte ich spontan und goss Milch in meinen Kaffee, ein bisschen zu viel, sie schwappte über. Was war heute mit mir los?
    «Ich soll ihn dir geben?», fragte sie und wunderte

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