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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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ihre Sätze so beendete, in Deutschland, der Supermarkt, die freie Presse, der Minister, das Krankenhaus, das Bildungssystem, die Universitätsausbildung, die Herzspezialisten, nun kam das Altenheim dazu, dann hatte es etwas so Kategorisches und Endgültiges an sich, dass zu widersprechen noch nicht einmal ich mich traute. Meine Mutter, die sich in Deutschland Anna nennen ließ, obwohl ihr Name Anastasia war und selbst bei der Abkürzung ihres Namens immer noch ein «n» zum deutschen Anna fehlte, war vor über dreißig Jahren aus der Sowjetunion «errettet worden», wie sie selbst sagte, sie nannte sich selbst in dem Zusammenhang auch gerne eine Dekabristin. Ich hatte es mir als Kind von Frank erklären lassen und es seitdem schon unzählige Male wiederum selbst erklären müssen, Freunden, die ich mitgebracht hatte, auch neuen Freunden meiner Eltern, wenn meine Mutter sich mal wieder selbst so bezeichnete und davon ausging, dass die Geschichte des zaristischen bzw. revolutionären Russlands Allgemeinwissen war: Dekabristen, das waren Offiziere der russischen Armee, die 1825 als Erste den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus  I . verweigerten und damit gegen das autokratische (auch diesen Begriff hatte mir Frank damals erklärt) Zarenregime protestierten. Auch sie, meine Mutter also, hatte sich tollkühn gegen das sowjetische Vaterland erhoben, als sie Frank, den deutschen Kommunisten, heiratete und sich zusammen mit mir und Großmutter nach Deutschland erretten ließ. Ich hatte damals, als ich das zum ersten Mal hörte, «Ich bin eine wahre Dekabristin», und Frank es mir erklärte, voller Bewunderung gefragt: «Hast du dann auch mit einem Gewehr vor dem Palast gestanden und gesagt, dass du jetzt in ein anderes Land gehst?», weil Frank natürlich sofort ein Buch aus seinem Arbeitszimmer geholt und mir Bilder vom Dekabristenaufstand gezeigt hatte, auf denen sich Dekabristen, zu Fuß und zu Ross, vor dem Winterpalast versammelt hatten und ihre Fäuste und ihre Gewehre erhoben. Ich war aufgeregt, meine Mutter mit Gewehr, und wo war ich, etwa als Baby dabei? Und Großmutter, was machte sie? Aber den genauen Zusammenhang zwischen den Dekabristen von 1825 und ihr wollte oder konnte mir die selbsternannte Dekabristin nicht erklären. Von meiner Mutter wusste ich nur, dass die Sowjetunion ein Ort war, dem man also «errettet» werden musste, ein Verb übrigens, das sie auch nach dreißig Jahren nicht richtig aussprechen konnte, mit den zwei r, die sie nicht zu rollen versuchte. Sie war «errettet worden», spätestens das zweite rollte sie, und nun lebte sie in Deutschland, und Einrichtungen «in Deutschland» begingen per se keine Fehler, worauf zu widersprechen ich mich nicht traute, obwohl ich ihr sonst gerne widersprach, und die besagten Einrichtungen sammelte ich seit Jahren auf meiner Liste.
    Die zweite Liste hatte ich «Das sowjetische Erbe meiner Mutter» getauft, und ich achtete darauf, keine falsch verwendeten Ausdrücke und Metaphern darauf zu schreiben, weil diese auf eine eigene Liste gehörten. Lange hatte ich dafür gebraucht, ihre Sammelleidenschaft für Panini-Bildchen in nur einem Satz zu formulieren, weil es mir einfach nicht gelang, die sowjetische Mangelwirtschaft, das Alles-hinter-sich-Lassen und das Alles-Hinterlassen, den Wunsch, die Kindheit noch einmal anders erleben zu können, die Sammelleidenschaft, das Unvermögen zu erkennen, was angemessen ist, in nur einen Satz zu pressen und plausibel zu erklären, warum eine erwachsene, hochgebildete Frau, die alle Werke Tolstojs gelesen hatte (und nicht nur Tolstojs), mit einer Leidenschaft Fußballbildchen sammelte, mit der sie sonst nur Tolstoj zitierte, ohne dass sie in diesem Satz als Verrückte zutage trat. Ich ärgerte mich über meine Unfähigkeit und nahm mir den Satz immer wieder zur Hand, Worte waren doch mein Metier. Nie schmiss meine Mutter Lebensmittel weg, ich mutmaßte, sie wisse nichts von der Existenz des Ablaufdatums, beim Bügeln nahm sie Wasser in den Mund und spuckte es auf das zu bügelnde Kleidungsstück, auch lange nachdem Frank ihr ein Dampfbügeleisen geschenkt hatte, den «Playboy» hielt sie für ein Pornoheft (und konnte nicht verstehen, warum ich Flox nicht verbot, Reportagen dafür zu schreiben, und das Wort «Porno» auszusprechen fiel ihr schwer und hatte sie, meines Wissens nach, nur zweimal geschafft), und als ich ein Kind war, hatte sie Dinge, die ich haben wollte, sofort gekauft und «Aber das ist für deinen

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