Die Listensammlerin
sich, zusammen mit mir, zusammen wahrscheinlich auch mit Frank, den ich vor mir sah, wie er am Küchentisch saß und ebenfalls Kaffee trank und nun aufschaute, Frank und ich telefonierten so gut wie nie.
«Ja», antwortete ich, weil heute nicht nie war, sondern ein sonderbarer Tag, an dem ich um elf aufgestanden war, weil ich um sechs ins Bett gegangen war, weil um zwei Uhr vierundfünfzig mein Telefon geklingelt hatte und mir die Nachricht überbracht worden war, dass meine alzheimerkranke Großmutter aus ihrem Altenheim entlaufen war (wie ein Hund) und nun durch die Straßen irrte (wie ein streunender Hund). Ich verabredete mich mit Frank, da wir beide nicht wussten, was wir mit diesem sonderbaren Tag anfangen sollten, zu einem Tee in der Wohnung meiner alzheimerkranken, durch die Straßen irrenden, vielleicht auch tot herumliegenden Großmutter.
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Vierzehntes Kapitel
Unterwegs kaufte ich zwei belegte Brötchen und zwei Croissants. Gerade hatte ich gedankenlos bei der Bäckereiverkäuferin Kuchen bestellt, als mir schlagartig einfiel, wohin ich auf dem Weg war: «Ach nein, warten Sie! Ich nehme doch was anderes!»
Sie blickte mich entrüstet an. «Keinen Kuchen also?»
«Nein, keinen Kuchen. Ich nehme zwei von den belegten Brötchen. Und vielleicht noch Croissants. Ja, zwei Croissants, eins mit Schokolade, eins ohne.»
Sie schüttelte den Kopf, dabei hatte sie den Kuchen zwar schon auf den Kuchenheber, aber noch nicht auf einen Pappteller gelegt. Ich lächelte, entschuldigte mich, es half nichts.
«Fünf achtundsechzig macht das», sagte sie, und freundlich klang das nicht. Ich zahlte, ließ mir trotz ihrer Unfreundlichkeit eine Papiertüte geben, lächelte noch einmal dankbar und schüttelte beim Herausgeben über mich selbst den Kopf.
Großmutter hatte Kuchen vom Bäcker gehasst, aus tiefstem Herzen gehasst, ohne ihn jemals probiert zu haben. Großmutter hatte Kuchen gebacken, jeden Tag, auch an Tagen, an denen ihn niemand aß. An jenen Tagen aß sie wie an allen anderen selbst ein Stück, immer aß sie höchstens ein Stück Kuchen pro Tag, sie achtete auf ihr Gewicht (meine Großmutter!) und fror den Rest ein. Wenn meine Eltern und ich in Urlaub fuhren, meistens ohne sie, fror sie auch in unserem Gefrierfach Kuchen ein, und wenn wir zurückkamen, standen auf dem Tisch mindestens zwei neue, und das Gefrierfach war mit Kuchen gefüllt, den meine Mutter auftaute und den sie und Frank mit zur Arbeit nahmen, und alle in Franks Lehrstuhl wussten von meiner Großmutter, seiner Schwiegermutter aus Russland (sie sagten Russland, obwohl sie zu Osteuropa forschten und meine Großmutter aus der Sowjetunion stammte), die in Deutschland jeden Tag einen Kuchen backte. Sie probierte neue Rezepte aus, und sie erfand Rezepte und freute sich, genau wie ich (als ich noch klein war), wenn ich eine komplizierte Aufgabe für sie hatte: Ich will einen Kuchen mit Schokoladenboden und Marzipanboden, mit Blaubeeren und Himbeeren, und es soll ein bisschen wie Käsekuchen schmecken. An manchen Rezepten arbeitete sie wochenlang, probierte jeden Tag etwas Neues, änderte die Mehlmenge, tat Zitronenschale hinein, ließ die Gelatine weg, nahm dunkles Kakaopulver statt helles. Die vollendeten Rezepte schrieb sie nicht auf, weil die Rezepte in ihrem Kopf waren, was sich erst als Fehler herausstellte, als sie zu vergessen begann und statt Zucker Salz, statt Backpulver Vanillezucker und statt Quark Joghurt nahm. Noch später fing sie an, Leute zu beschuldigen, meist Frank oder die Nachbarin aus der Wohnung nebenan, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, manchmal auch meine Mutter, mich am seltensten, aber später sogar mich, wir hätten in ihren Kuchenteig Joghurt getan, das Backpulver versteckt, Salz in die Zuckerdose geschüttet. Meine Mutter und ich backten nicht oder nur selten, weil meine Großmutter ja immer gebacken hat. Als meine Großmutter die Rezepte zu vergessen begann, begann meine Mutter damit, sich erst nach einer Pflegerin, die meine Mutter täglich besuchen sollte, zusätzlich zu ihren eigenen Besuchen, und später nach einem Heim für meine Großmutter umzusehen. Ich protestierte am längsten (eigentlich auch als Einzige, wobei Frank mir später sagte, dass meine Mutter auch lange mit sich gerungen und gezweifelt und sich Vorwürfe gemacht habe, aber ich wusste nie, ob Frank nicht auch Dinge sagte, damit meine Mutter und ich uns nicht stritten), ich klagte und wollte nichts davon hören
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