Die Listensammlerin
Bienen geblieben, weil er geahnt hatte, dass der Zorn sich in Moskau vervielfachen, sich seiner bemächtigen würde (und diese Ahnung war Realität geworden, aber er hatte nun einmal zurückkehren müssen).
Er mochte seine Nichte, sie war der einzige Mensch, den er derzeit in Moskau mochte. Sie war zwei Monate alt und hatte seine Existenz, soweit er wusste, noch nicht zur Kenntnis genommen. Aber sogar auf sie war er zornig.
Er war so voller Zorn, dass er nicht wusste, wohin damit, er hatte übers Boxen nachgedacht, aber das probeweise Einschlagen auf Kissen, Decken und auch mit den Fäusten auf Betonmauern (um die linke Hand – er war Linkshänder – trug er nun einen Verband) hatte keine Besserung gebracht, der Zorn blieb weder in den Kissen noch an der Mauer hängen. Weil Yoga nicht half – mit Tanja traf er sich nicht mehr, er wollte es ihr nicht sagen, keineswegs weil er sich nicht traute, sondern weil er eine erneute Auseinandersetzung vermeiden wollte, er schien von einer in die nächste zu stolpern –, hatte er angefangen zu laufen. Er lief zum Fluss und am Fluss entlang bis zur Borodinskij-Brücke, und wenn er lange genug, eine Dreiviertelstunde oder Stunde gelaufen war, begann er langsam, nur noch die Turnschuhe auf dem Asphalt und seinen Atem zu hören (und je kälter es wurde, desto mehr seinen Atem auch zu sehen, und er ahnte, der Winter war nicht weit). Wenn er nur noch Turnschuhe auf dem Asphalt und seinen schnellen, aber regelmäßigen Atem hörte, konnte er endlich aufhören, sich über Passanten und Autos und Bäume und Menschen, die den Fluss verschmutzten, und Hunde, die überall hinmachten, und Laster, die auf dem Bürgersteig parkten, zu ärgern, und der Zorn ließ ihn für kurze Zeit los, er lief nur noch, und sein Kopf war frei von jeglichen Gedanken (so wie Tanja es ihm mit Yoga versprochen hatte). Er genoss die Leere, sie gab ihm Auftrieb, er lief weiter, bis seine Beine nicht mehr konnten und er sich irgendwo einfach fallen ließ. So schlaff war dann sein Körper, dass er es bestimmt zehn Minuten lang schaffte, die hilfsbereiten Passanten, die ihn besorgt fragten: «Ist alles in Ordnung, junger Mann?», genauso zu ignorieren wie die schimpfenden: «Was liegt da einer?»
Er freute sich auf den Winter, wenn er in die ins Eis geschlagenen Löcher der Moskva springen würde, «Walross» nannte man die Leute, die das machten, und häufiger noch «Verrückte». Die Kälte, so erinnerte er sich, und wenn er sich erinnerte, schüttelte es ihn, als wäre er in diesem Moment wieder im eiskalten Wasser, war im Grunde ein angenehmes Gefühl (und hätte er das laut ausgesprochen, hätten sie alle das wohl als Beweis für seinen Wahnsinn angesehen, wie seine Mutter und seine Schwester seinen Gemütszustand neuerdings bezeichneten). Die Kälte jedenfalls schloss alles andere aus, und wo er war und wer er war und warum, war vollkommen egal. Ein angenehmes Gefühl.
Seine Mutter weinte viel, jeden Abend eigentlich, in ihrem Zimmer, im Dunkeln, und manchmal auch, während sie die Eier zum Frühstück briet, und auch immer häufiger unter der Dusche, da schluchzte sie gar, weil sie davon ausging, dass niemand sie hörte, aber er hörte das Weinen, hörte das Schluchzen. Sie weinte, weil
sein Vater gestorben war, vor einem halben Jahr schon, in den frühen Morgenstunden eines Märztages, als der Schnee schon zu schmelzen begonnen hatte und zu grauem, mitleiderregendem Matsch verkommen war. An Lungenkrebs, der seinen Körper aufgefressen hatte, der erst das Fett herausgesogen hatte und dann – so schien es – die Knochen schrumpfen ließ, bis nur noch die Umrisse seines Vaters im abgedunkelten Zimmer gelegen hatten, um auf den Tod zu warten, der in den frühen Morgenstunden eines Märztages seine Arbeit erledigt hatte, er war nicht zu Hause gewesen, natürlich nicht. Und seine Mutter weinte nun auch, weil
sein Bruder weggezogen war, sobald sein Vater unter der Erde gelegen hatte, nach Jakutsk, achttausend Kilometer weit weg, zur Mutter seiner Frau, aber wegen Letzterer weinte seine Mutter bestimmt nicht, hoffte er, sondern
weil ihr erstes Enkelkind, der kleine Timoschka, nun achttausend Kilometer weit weg lebte und sie ihn höchstens einmal im Jahr sehen würde, weil man mit zwei Nachtzügen und dann noch mit dem Lastwagen dahin fahren musste, weshalb es viel wahrscheinlicher war, dass sie ihn nur alle zwei Jahre (wenn nicht noch seltener) sehen würde, und sie weinte auch,
weil ihre Tochter, die
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