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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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bricht
    • dass man beim Arzt nicht so lange warten muss
    • dass sie nicht so oft weint
    • einen anderen Mann
    • einen neuen Hut
    • einen Sohn, der nicht aus ihrem Hut ein UFO bastelt
    • eine musikalischere Tochter
    • nette Lehrer für ihre Kinder, die nicht sofort zu ihr rennen, wenn ihre Kinder (besonders ihr Sohn) etwas angestellt haben
    • eine eigene Datscha
    • dass Onkel Boris nicht immer betrunken vorbeikommt
    • dass ihre Füße nicht mehr wehtun
    • dass es jeden Tag in unserem Supermarkt Brot und Fleisch gibt, damit sie nicht in verschiedenen Schlangen stehen muss
    • neue rote Stiefel
    • dass sie Zeit hat, das Buch zu lesen, das ich ihr geschenkt habe
    • mehr Zeit zum Lesen
    • dass ihr Sohn gerne mit anderen Freunden zusammen wäre
    •
EINEN SOHN , DER IHR NICHT ANTUN WÜRDE , WAS ICH IHR ANTUN WERDE
    Er wusste nicht, wohin mit seinem Zorn. Im buchstäblichen Sinne. Sein Körper fühlte sich an wie ein Topf, in dem jemand, wohl er selbst, Wasser kochte, auf höchster Gasflamme, die unter dem Topfboden tobte und an den Seiten hervorkroch, bis das Wasser brodelte und aufwallte. Es hatte schon vor einer ganzen Weile erst Bläschen und dann größere Blasen gebildet, es näherte sich allmählich gefährlich dem Topfrand, und jetzt, genau jetzt begann es überzulaufen, obwohl er sich bemüht hatte, den Deckel draufzuhalten. Der Deckel hatte erst ein wenig gezittert, aber später, spätestens seitdem er von der Imkerei zurückgekehrt war, um seine Nichte kennenzulernen, hatte das Wasser (oder eben der Zorn) den Deckel mit überraschender Kraft wegspringen lassen und sprudelte nun heraus und spritzte in alle Richtungen, und die Spritzer, und das wiederum überraschte ihn, die die Gasflamme trafen, löschten diese nicht, sondern schienen das Feuer noch stärker zu entfachen, der Zorn sprudelte aus ihm heraus und überallhin, und dass er ihn nicht im Griff hatte, ihn nicht zähmen konnte, steigerte abermals den Zorn. Fuck the Zorn («fak se» was auch immer, hatte er bei Tanja gelernt, es war Englisch, und es gefiel ihm, das Englische, aber auch der Klang, hart und knapp und eben zornig), fuck the Zorn, er spuckte auf den Asphalt, fuck the sein Leben, fuck the, fuck the, fuck the. Er hatte große Lust, Englisch zu lernen, aber wo? In Amerika am liebsten, aber sollte er hinschwimmen, oder wie?
    Er hatte die Bienen gemocht. Er hatte Sergej geliebt. Er hatte nicht zurückkommen wollen. Er hatte, als er gezwungen war, sich auf den Rückweg zu machen, gehofft, das Summen der Bienen in seinem Kopf mitnehmen zu können, weil er sich, als er noch unter ihnen war, nicht hatte vorstellen können, dass es einen Ort gab, an dem man das Summen nicht hörte, an dem das Summen nicht alles begleitete, nicht alles kommentierte, den Ton und die Frequenz vorgab, und es hatte kaum zwei Tage gedauert, da hatte er das Summen angenommen, als sei es ein Teil von ihm, so wie ihn auch die große Haarsträhne (die Haarsträhne wie die von Elvis Presley, ein wahrlich schöner Mann) in seinem Gesicht nicht störte, auch wenn seine Mutter regelmäßig sagte: «Das sieht ja nicht nur nicht aus, du siehst ja auch gar nichts, sogar Olga fragte mich schon, ob du noch was siehst, ach, alle fragen mich das!» Sein Vater hatte ihn gebeten, kurz bevor er starb, die Strähne abzuschneiden, und es tat ihm von ganzem Herzen leid, ihm diesen einen Wunsch nicht erfüllen zu können (es war natürlich nicht bei dem einen geblieben), er mochte die Strähne, so wie er Elvis mochte, von dem er schon zwei Platten besaß (eine hatte ihm Sergej geschenkt!), und sie abzuschneiden hätte Olga und all den anderen, die seine Mutter nach der Haarsträhne im Gesicht fragten, zu viel Genugtuung bereitet. So zornig war er inzwischen, dass ihm Olgas Meinung und die der anderen etwas bedeutete! Olga, die er auf der Straße kaum wiedererkannt hätte, eine alte Freundin seiner Mutter, die sie jetzt wieder häufiger traf, um mit ihr zu weinen, auch Olga hatte ihren Mann verloren, sie sagten beide «verloren», als wäre ihnen das versehentlich auf der Straße passiert, als hätten sie ihre Männer in der Metro sitzen lassen oder in einem vollen Trolleybus aus den Augen verloren und nie wiedergefunden.
    Er ärgerte sich über seinen Zorn. Er spuckte noch einmal auf den Asphalt, als könnte er den Zorn mit ausspucken und dort liegen lassen, damit jemand auf ihn treten könnte wie auf eine Kakerlake, stattdessen blieb eine mittelalte Frau stehen,

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