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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Gefühllosigkeit zumuten wollte. Notgedrungen versuchte er, sich die Gesichter einzuprägen:
    Das schwarze Gesicht seiner Mutter. Erst hatte er geglaubt, es sei das Licht und das Schwarz ihres Mantels und ihres Kleides, das sich in ihrem Gesicht spiegelte, dachte aber nicht weiter darüber nach, sondern vielmehr an seinen Fotoapparat, den er an jenem Tag so schmerzlich vermisste (schmerzlicher als seinen Vater, aber diesen Gedanken ließ er nicht lange verweilen), mit dem er das Schwarz festhalten wollte. Erst später, als sich der Sarg schon im Grab befand, blitzte der Gedanke auf, das Gesicht seiner Mutter sei vor Trauer schwarz, und der Gedanke erschreckte ihn und erdrückte ihn, als müsste er das Schwarz wiedergutmachen, als sei er an dem Schwarz irgendwie schuld. Er machte ein paar Schritte zur Seite, weil ihn niemand zu brauchen schien, sein Bruder hielt seine Mutter fest und Sascha seine Schwester und sein Onkel Tante Aljona, nur er, er hielt weder jemanden fest, noch wollte oder musste er festgehalten werden, also machte er ein paar Schritte zur Seite, um sich die Trauergemeinschaft kurz anzusehen, um nicht mehr zum Sarg herabstarren und darüber nachdenken zu müssen, wie lange es wohl dauerte, bis Würmer das Holz zerfressen und sich zu seinem Vater durchgefressen haben, Wochen, Monate, Jahre, nein, so lange sicher nicht. Sie trugen alle Schwarz, fiel ihm nun auf, und er schüttelte über sich selbst den Kopf, was denn bitte sonst, und blickte noch einmal zu seiner Mutter, sie war jedoch die Einzige, deren Gesicht fast schwarz wirkte (war es das Licht?). Er hätte jetzt gerne auf den Auslöser gedrückt.
    Saschas Gesicht. Besorgt, wenn er zu seiner Schwester oder zu seiner Mutter blickte. Ausdruckslos, wenn er zum Sarg hinuntersah. Oder war da ein Funke Wut? Seine Finger in den Taschen der zu großen Anzugjacke zuckten, wollten diesen Funken im Gesicht festhalten. Sascha war wütend, stellte er fest (emotionslos stellte er das fest, er hatte schon den ganzen Tag keine Gefühle). Er selbst war nicht wütend, er wüsste auch nicht, auf wen er wütend hätte sein sollen. Auf Gott? Lächerlich. Seine Großmutter hatte an Gott geglaubt, sie hatte in der Kirche Kerzen angezündet, sich jedes Mal bekreuzigt, wenn er etwas angestellt hatte. Bei ihrer Beerdigung, der ersten Beerdigung in seinem Leben, hatte er erwartet (damals war er ein Kind), Gott anzutreffen, aber Gott war nicht erschienen.
    Einmal hatte er seiner Großmutter zum Geburtstag ein Bild von Gott gemalt, so wie er sich ihren Gott vorstellte, der brennende Kerzen in pompösen, aber «Sei mal leise»-Kirchen zu mögen schien, er hatte sich Mühe gegeben und mit Aquarell gemalt, weil seine Großmutter seine bunten Bilder lieber mochte als die schwarzweißen Zeichnungen, aber als sie das Bild erblickte, als alle das Bild erblickten, in die Ecke hatte er in Druckbuchstaben «Dein Gott – zum 80 . Jubiläum» geschrieben, war seine Großmutter nicht die Einzige gewesen, die sich bekreuzigt hatte. Nein, er war nicht wütend auf Gott, den es nicht gab und den man trotzdem nicht zeichnen durfte, wie er als Kind hatte lernen müssen. Und auf das Schicksal? Auf das Leben? Dazu hätte er schon lange Grund gehabt. An seinen eigenen Vater konnte sich Sascha nicht erinnern, er war wohl an seinen Kriegsverletzungen gestorben, da war Sascha ein halbes Jahr alt. Nun hatte man ihm den anderen Vater, den seines besten Freundes und seiner zukünftigen Ehefrau genommen, ein wenig hatte er diesen Vater in den letzten Jahren auch seinen nennen dürfen.
    Das Gesicht seines Bruders wollte er ebenfalls gerne fotografieren, weil man es nicht sah. Sein Bruder hielt sich die Hände vors Gesicht, vielleicht weinte er dahinter. Er hatte seinen Bruder noch nie weinen sehen, noch nicht einmal Bilder aus der Kindheit, als jener vom Fahrrad geflogen war oder sich aus sonstigen Gründen ein Knie aufgeschlagen hatte (oder war das immer nur ihm, nie seinem Bruder passiert?), hatte er im Gedächtnis, dabei war sein Bruder nur vier Jahre älter als er. Auch heute weinte sein Bruder nicht, oder nur hinter den Händen (schade eigentlich, er hätte seinen Bruder gerne Gefühle zeigen sehen). Ihm gefiel das Bild der langen Finger, die die weinenden oder nicht weinenden Augen verdeckten, die Nase, er mochte die Falten auf der Stirn. Die Hände fuhren das Gesicht auf und ab, auch mal mit den Fingerspitzen in die Haare, und er stellte sich vor, wie er den Zeigefinger geduldig auf dem Auslöser

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