Die Listensammlerin
nicht?», hatte Grischa kopfschüttelnd gesagt und so abwertend, wie er es in Saschas Fall vermochte. Sie hatten einander in die Augen gesehen wie bei einem Duell, und Grischa hatte gewusst, er würde als Sieger hervorgehen. Sascha hatte genickt und weggeschaut, und er hatte gelacht, und sein Lachen hatte selbst in seinen eigenen Ohren überheblich geklungen. Er hatte, als er sein eigenes Lachen hörte, weggeschaut, was Sascha nicht auffiel, weil er schon längst seine Schuhe inspizierte. Er dachte schon lange, dass niemand jeden Fleck, jeden Kratzer im Leder, jeden einzelnen Faden im Gewebe seiner Schuhe so gut kennen dürfte wie Sascha.
«Alle für einen, einer für alle!», zitierte er aus «Die drei Musketiere», weil ihre jahrelange Freundschaft mit der Liebe zu Alexandre Dumas begonnen hatte. Sie hatten einander ihre Lieblingsstellen vorgelesen, in seinem Zimmer, auf seinem Bett, seine Schwester hatte zugehört, sogar sein Bruder, obwohl der selbstverständlich so tat, als hätte er Wichtigeres zu tun, und seine Mutter hatte gelacht (aber wohlwollend gelacht): «Könnt ihr nicht was anderes vorlesen? Gedichte? Lermontow? Puschkin? Oder zumindest Tschechow?»
«Ja», sagte Sascha und erhob sich. Sie saßen sich in Saschas Zimmer gegenüber, seine Schwester ging gerade mit seiner Nichte spazieren, in dem Zimmer saßen sie, in dem Sascha schon immer gelebt hatte, erst mit seiner Mutter, als diese gestorben war, alleine, und nun mit seiner Frau und seiner Tochter, und er dachte, vielleicht würde es Sascha nicht stören, in diesem Zimmer auch zu sterben – er selbst, er wollte meist nur weg, egal, wo er war.
«Ja», wiederholte Sascha. «Bei denen ist es alle für einen, und bei uns ist es alle für Grischa.»
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Sechzehntes Kapitel
Ideen, welche Ausländer in Frage kommen
• Giovanni, mit dem Tanja Yoga macht
• Jakub (aus Sergejs Fakultät)
• Imre
• Cho Myung oder Lim Konguk
• der Schwarze, den ich fotografiert habe
• der Ungar (?)
• der Deutsche, den Sascha kennengelernt hat
Seit dem Tag, an dem sein Vater begraben worden war, hatte er weder gezeichnet noch fotografiert. Er hätte gerne, an jenem Tag hätte er gerne fotografiert. Gesichter. Er wollte sie nicht durch falsche Striche verzerren, fürchtete auch ein bisschen, beim Zeichnen vielleicht wieder in die Karikatur abzudriften, hier ein Strich zu viel, da eine falsche Linie, er wollte sie nicht ins Lächerliche ziehen, wollte keine übergroßen Tränen zeichnen, keine rotzigen Nasen, keine knallroten Augen, er wollte die Gesichter festhalten, wie sie an jenem Tag waren. Tränen, bemerkte er, konnte er als solche nicht erkennen, vielleicht weil es zu grau, das Licht zu schummrig war, auch wenn jene, deren Gesichter er festhalten wollte, weinten (manche gar schluchzten, seine Schwester zum Beispiel, auch seine Tante. Er konnte sich nicht erinnern, wann er Tante Aljona das letzte Mal gesehen hatte, auch nicht, dass sie in den Wochen, in denen sein Vater auf den Tod gewartet hatte, vorbeigekommen war). Auch aus den Nasen tropfte nichts, kein Rotz, noch nicht einmal bei seiner Schwester, die schluchzte, wie sie auch als Kind geschluchzt hatte (und schon damals hatte er diese Weltuntergänge nicht verstanden): ausdauernd, schallend, nach Luft schnappend. «Atmet sie noch?», hatte er seine Mutter als Kind einmal gefragt, aber keine Antwort bekommen, nur ein «Shhh» (der Laut seiner Kindheit), «du könntest sie auch mal trösten». Die Augen (seiner Schwester, seiner Tante Aljona, all der anderen, die er kannte oder auch nicht kannte oder hätte kennen müssen) waren möglicherweise ein wenig rot, aber nur wenn man genau hinsah, nach der Röte in den Augen suchte. Wenn sie gerade im Hellen standen, kein Schatten auf sie fiel, nur wenn die Wolken der Sonne einen kurzen Auftritt erlaubten. Es fröstelte ihn, dabei war der März dieses Jahr sehr warm.
Er weinte nicht. Er musste an das andere Begräbnis in seinem Leben denken, das der Lungenkrebs verursacht hatte, an das von Boris Pasternak, einer seiner schönsten Tage, dachte er noch heute. Von diesem Tag würde er das sicher nicht sagen können. Sein Vater war aber auch nicht Boris Pasternak, und seine Familie, seine Freunde, seine Kollegen natürlich nicht Pasternaks Gefolgschaft.
Er bedauerte, seinen Fotoapparat nicht mitgebracht zu haben. Er hatte ihn nicht mitgebracht, weil er seiner Familie in der Trauer über den Todesfall nicht noch die über seine
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