Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
meine Großmutter kümmerte. Ich hatte ihn angeblafft, er wisse doch, was los sei (und ich meinte Anna und das Krankenhausleben, das wir anfangs mit ihr führten), aber er hatte nur den Kopf geschüttelt, als überraschte ihn mein Ausbruch nicht. Er hatte «Trotzdem» gesagt, in seiner ruhigen, leisen Art, und das Zimmer verlassen, obwohl ich gerne diejenige gewesen wäre, die als Erste das Zimmer verlässt, des Türzuschlagens wegen.
    Ich war nun auf dem Weg dorthin, in diese Wohnung, in der meine Großmutter seit über drei Jahren nicht mehr lebte, die ich vor ein paar Wochen angefangen hatte auszuräumen, weil meine Mutter beschlossen hatte, dass es an der Zeit sei, und in der ich vor ein paar Tagen eine alte Holzschatulle mit Listen gefunden hatte, die mir keiner erklären konnte oder wollte. Frank saß jetzt dort und wartete auf mich, obwohl wir uns sonst nie verabredeten, weil wir beide wohl hofften, meine weggelaufene Großmutter könnte in diese Wohnung zurückkehren, die drei Jahre lang auf sie gewartet hatte, regelmäßig geputzt und gelüftet. Ich hatte Brötchen und Croissants in einer Papiertüte vom Bäcker dabei, weil ich mich nicht traute, Kuchen mitzubringen in ihre Wohnung, in der sie selbst Tag für Tag Kuchen gebacken hatte.
    (Ein Punkt für meine Liste «Wenn wir in einem Hollywoodfilm wären», den ich mir in der U-Bahn notierte:
    «Frank und ich essen Kuchen vom Bäcker in Großmutters Wohnung. Es klingelt, sie steht vor der Tür und sagt, als sei nichts gewesen, als hätte sie ihren Verstand unterwegs wiedergefunden, als sie die Tüte auf ihrem Küchentisch sieht: ‹Wie könnt ihr nur? Ich backe euch doch euren Kuchen. Was wollt ihr haben? Sofotschka, du etwas mit Schokolade?›»)
    Frank saß schon am Küchentisch und hatte eine Kanne Tee gemacht, Tee und Zucker waren die einzigen Lebensmittel, die ich noch in ihren Küchenschränken vorgefunden hatte, wahrscheinlich, weil meine Mutter sich nach dem Putzen gerne noch einen Tee kochte. Frank sah frischer aus als gestern, sein Gesicht nicht mehr so fahl, und sogleich hoffte ich, mein gestriger Eindruck sei den Ereignissen, der Nacht und dem Licht geschuldet gewesen. Ich hatte die Wohnung mit dem Schlüssel aufgeschlossen, den mir meine Mutter überreicht hatte, nachdem sie für sich entschieden hatte, dass die Aufgabe, diese auszumisten, mir zufalle, und war augenscheinlich ausgesprochen leise hereingekommen, denn Frank reagierte nicht auf das Zufallen der Tür, nicht auf meine Schritte und auch nicht, als ich plötzlich vor ihm stand. Er saß mit gebeugtem Oberkörper da und starrte auf den Tisch, und erst als ich mich ihm näherte, erkannte ich, dass es nicht der Tisch war, an dem sein Blick so fest hing, sondern ein Foto.
    «Hallo!», sagte ich und stellte die Bäckertüte auf den Tisch neben die Teekanne, und aus einer spontanen Regung heraus beugte ich mich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange, als hätte er Geburtstag. Frank blickte auf, überrascht und, so glaubte ich zu sehen, erfreut, in Gedanken aber immer noch bei dem Foto. Er hielt es hoch und mir vor die Nase, ich hatte meinen Anorak und meine Schuhe noch an und wollte beides gerade ausziehen und sah deshalb nicht richtig hin.
    «Da!», rief er triumphierend und mit einem unpassenden Enthusiasmus, er war ja schließlich Frank. «Ich habe gerade ein Bild von Grischa gefunden!»

[zur Inhaltsübersicht]
    Fünfzehntes Kapitel
    Was ich Mama wünsche
    • einen anderen Sohn (an meiner Stelle)
    • mehr Geld
    • eine Einzelwohnung
    • dass sie Tante Mascha häufiger sieht
    • dass Papa mehr redet
    • einen Sohn, der sich besser in der Schule benimmt
    • dass ihre Arbeitsstelle näher dran ist
    • dass sie ans Schwarze Meer fahren kann
    • dass ihr Sohn die Katze nicht in die Raumfahrt schicken will
    • dass sie ein Theaterabonnement bekommt
    • einen Farbfernseher
    • dass ihr Sohn nicht die Lehrerin einsperrt
    • dass sie noch vor Ende des Winters in der Warteschlange mit dem Wintermantel drankommt
    • dass ihr Sohn nicht den Mantel von Nikolaj Petrowitsch benutzt, um die alte Frau aus dem 3 . Hauseingang zu erschrecken, die immer aus dem Fenster guckt
    • dass ihr Sohn sich nicht die Nase bricht
    • dass ihr Sohn an Stalins Todestag keine Grimassen schneidet
    • dass sie mehr Zeit zum Ausruhen hat
    • dass ein Roboter erfunden wird, der Geschirr abspült
    • dass ein Roboter erfunden wird, der Wäsche wäscht
    • dass ihr Sohn sich nicht die Hand

Weitere Kostenlose Bücher