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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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schüttelte den Kopf. «Junger Mann, wie können Sie nur? Wir sind hier in Moskau, nicht auf dem Dorf!» Dass die Menschen sich in diesem Gedrängel, in dieser ewigen Eile noch wahrnahmen, überraschte ihn jedes Mal wieder, er freute sich, weshalb er der Frau sein charmantestes Lächeln schenkte. «Recht haben Sie! Auf dem Dorf sind wir hier wirklich nicht. Ich entschuldige mich vielmals, sehr geehrte Moskauerin!» Er verbeugte sich tief, fast reichte sein Kopf an den Boden, und als er wieder aufblickte, war die Frau bereits Richtung Metroeingang geeilt.
    Die Bienen waren auch immer in Eile, immer am Tun gewesen, und vor allem die Kuckucksbienen und die Solitärbienen, so meinte er entdeckt zu haben, schienen dabei einen Plan im Kopf zu haben und die anderen Bienen noch nicht einmal wahrzunehmen. Er hatte sie tagelang interessiert beobachtet, es war wie das Meditieren gewesen, das Tanja ihm neuerdings beizubringen versuchte, das nicht half (lag es an Tanja, lag es an ihm, lag es am Meditieren?). Die Kuckucksbienen waren Schmarotzer, die nicht selbst Nester bauten, sondern ihre Eier in die Brutzellen anderer Bienenarten legten, aber selbst beim Schmarotzen, wo es ja darum ging, die anderen auszutricksen, den Moment abzupassen, in dem die Solitärbiene unterwegs war und ihr Nest nicht bewachte, schienen sie die anderen nicht zu beachten, als gingen sie davon aus, dass die anderen über dieses Schmarotzertum hinwegsehen würden. Denn – und sie konnten nun wirklich nichts dafür, die Glücklichen kannten ja keine Moral – sie waren einzig und allein auf der Welt, um zu schmarotzen, anderen Bienen ihre Eier unterzujubeln. Er mochte die Solitärbienen am liebsten, anfangs zumindest. Er hatte es Sergej zu erklären versucht, er wäre gerne selbst eine gewesen, er wünschte, er und Sergej könnten Solitärbienen sein. Aber Sergej hatte kein Interesse an Bienen gezeigt, erst recht kein philosophisches, noch nicht einmal an Honig, das Summen störte ihn, das «Bzzzzzzzzzz» und das «Schhhhhhhh», und seine Angst vor Bienen und ihren Stacheln, die er schon in Moskau angekündigt hatte, hatte er auch nach zwei Wochen nicht ablegen können. Grischa hatte geduldig gewartet und möglichst wenig über Bienen gesprochen und viel über Politik, auch nachts hatte er über Politik gesprochen, Sergej zuliebe, obwohl er keine Lust mehr hatte, über Politik zu sprechen, erst recht nicht nachts, aber trotzdem irgendwie gewusst, dass Sergej abreisen würde, und sich deshalb auch nicht sehr gewundert, als er es endlich aussprach, die Zigarette im Mundwinkel, wie immer in die Ferne starrend: «Ich werde abreisen.» Und weil er es gewusst hatte, in all den Nächten, in denen er sich Mühe gegeben hatte, über Politik zu sprechen anstatt über den Sinn des Lebens aus Sicht von Solitärbienen (im Gegensatz zum Beispiel zu den Gemeinen Pelzbienen, die sich ja manchmal zusammentaten, um im Schwarm Menschen anzugreifen, was Sergej – wenn man denn Politik auf Bienen übertragen wollte – doch gefallen dürfte) oder einfach in den klaren Himmel zu starren und dem immerwährenden Summen zu lauschen, das gut zu den Sternen passte, oder Sergej zu streicheln, und weil er auch enttäuscht war, dass Sergej die Bienen nicht mochte und nicht verstehen wollte, widersprach er nicht (versuchte es noch nicht einmal) und war nicht beleidigt und fragte nur, wann, und Sergej, überrascht über diese lethargische Reaktion, reiste noch einen Tag früher als geplant ab.
    Er blieb, natürlich blieb er, es hatte noch nie einen Ort gegeben, an dem er länger hätte bleiben wollen, einen Ort wie diesen, bei den Bienen, und die wenigen anwesenden Menschen in ihren Schutzanzügen, mit Imkerhauben und Schleiern, gingen im Summen unter. An den ersten zwei Tagen nach Sergejs Abreise setzte er sich, wenn die Imker ihn nicht mehr brauchten, ins Gras und beobachtete die Bienen, versuchte, sie zu zeichnen, aber die fortwährende Bewegung ließ sich weder mit Kohle noch mit Bleistift, noch mit verschwimmenden Aquarellfarben festhalten, und auch das mochte er an den Bienen, dass sie sich nicht festhalten ließen (weder auf dem Papier noch sonst irgendwie). Es hatte gedauert, bis er den Zorn in sich spüren konnte, zwei, drei Tage, vielleicht auch länger. Er liebte Sergej, und er hasste Sergej, und der Hass machte ihn zornig, und der Zorn schien sich in seinen Körper hineinzufressen, in immer mehr Blutbahnen, Nervenenden, Körperteile. Er war so lange wie möglich bei den

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