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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Ausländer (und bestimmt auch dessen Familie) Angst, alles in allem entpuppte sich Sascha nun, da er eine Familie hatte, als Feigling, und im Nachhinein dachte er, der Tapferste ist Sascha nie gewesen, er hatte das immer auf die Schüchternheit zurückgeführt und sah nun klarer und war ob dieser Klarheit sogar auf seine Nichte zornig. Der Feigling hatte dennoch anerkennend zugegeben, der Plan sei genial. «Absolut, durch und durch genial. Und einfach.» Die meisten genialen Pläne bestachen durch Einfachheit, das wusste er von den Musketieren, auch vom Grafen von Monte Christo.
    Und es lief gut, es lief wirklich gut. Der Schwarze schien ihn zu mögen. Der Schwarze beschwerte sich mit seinem wirklich lustigen Akzent, wie unkommunistisch die Moskauer waren. Jeder für sich, niemand vereinigte sich. Niemand teilte, zumindest teilte niemand freiwillig. Wer Privateigentum ergattert hatte, hing mit seinem Leben daran. Die Arbeiter, die er kennengelernt hatte, zu denen er hatte gehören wollen, empfanden sich nicht als die tragende und angesehene Schicht und wunderten sich über ihn und seinen Wunsch. Der Schwarze erzählte, er habe viel über den Kommunismus gelesen, insbesondere bevor er nach Moskau gekommen sei.
    Er überlegte kurz, ob er einwerfen sollte, was offensichtlich einzuwerfen war, und entschloss sich dafür, schaden könne es nicht. «Wir haben hier keinen Kommunismus.»
    «Ich weiß. Aber dieser Sozialismus, den ihr hier habt … ‹Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!›, hat Marx doch gesagt. Aber so ist es nicht. Es sind nicht alle gleich. Wie manche Menschen hier leben müssen, wie sie behandelt werden … Jeder nach seinen Bedürfnissen, das sollte auch für die Schwachen, für die Armen, für …», er machte eine Pause, suchte nach einem Wort, sein Russisch war beeindruckend, «für die schwierigen Menschen genauso gelten. Alle gleich, so ist es hier doch nicht.»
    Er seufzte, wie um diese Feststellung zu unterstreichen, als sei er der Erste, der sie machte, als würde es noch eine Weile dauern, bis der Rest der Menschheit das eben Gesagte als Weisheit erfassen konnte: «So ist es nicht.»
    Jetzt wurde es einfach. Wenn der andere Zitate mochte, dann eben mit Zitaten, kein Problem. Er würde aus der Tiefe angreifen. Wenn er Karl Marx haben wollte, sollte er Karl Marx bekommen. Grischa beschloss, ebenfalls zu seufzen, bevor er begann. «Aber das Problem geht doch viel, viel tiefer. Für Karl Marx waren auch nicht alle gleich. Er hatte gar nicht die Vorstellung, dass alle gleich sind. Er sprach vom Lumpenproletariat. Er nannte es ‹Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen›.»
    Während er das sagte, ahnte er, es könnte auch schiefgehen, was wusste er schon, wie genau man in Somalia Karl Marx gelesen hatte? Nicht dass er sich einer Diskussion nicht gewachsen fühlte (er hatte diesen Stumpfsinn gelesen und sich Gedanken dazu gemacht; er hatte auch eine Zeitlang eine Liste mit Fehlern der marxistisch-leninistischen Theorie geführt), aber eine solche Diskussion wäre nicht nur langweilig, sondern würde auch erst einmal in die falsche Richtung führen. Er hatte Hunger, das hier durfte nicht allzu lange dauern.
    Zum Glück hatte man in Somalia bzw. hatte Asad aus Somalia Karl Marx nicht besonders ausführlich studiert; er blickte ihn einmal schräg von der Seite an, vielleicht erstaunt, vielleicht auch nicht, und schwieg. So liefen sie weiter, schweigend. Er wartete, noch eine Querstraße, dann würde er fragen: «In Somalia, habt ihr da Demokratie?» Vielleicht würde er aber auch mit der Frage nach der Presse beginnen und langsam, unauffällig zur freien, gar zur internationalen Presse übergehen. Von sich selbst dachte er, er führte Gespräche, wie Männer Frauen beim Tanzen zu führen hatten: gekonnt in eine bestimmte Richtung, ohne zu aufdringlich zu werden. Er könnte auch persönlich beginnen, irgendjemand hatte ihm erzählt, dass jemand anders erzählt hätte, wie er von jemandem gehört hätte, dass Asad aus einem der großen, reichen Clans stammte (er stellte sich unter einem Clan wahlweise einen somalischen Stalin mit vielen Brüdern und Onkeln vor oder einen König, von dem er den Thron kindlicherweise nicht wegzudenken vermochte), weshalb er auch auf ihn gekommen war, jemand aus einem Clan musste Beziehungen haben. Überallhin, auch zur freien, auch zur internationalen Presse. Er könnte es auch auf die interessierte, sensible, freundschaftliche Art probieren:

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