Die Listensammlerin
ließ, um im richtigen Moment ein gestochen scharfes Bild zu bekommen. Als sein Bruder seine Mutter umarmte und dafür auch seine Hände benutzte, sah er keine Tränen im Gesicht, Augenringe sah er, Müdigkeit, aber nichts, was ein Foto wert gewesen wäre. Wie typisch für Andrej, dass die Hände das Interessanteste an diesem Gesicht waren.
Erde, Erde, Erde auf den Sarg, noch mehr Erde, noch mehr Tränen in den Gesichtern, Hände auf seinen Schultern, Gesichter, die er nicht kannte, die Hand seiner Schwester in seiner, die seiner Mutter auf seinem Gesicht, er gab sich Mühe, die richtigen Antworten zu geben, Leichenschmaus, dann war es vorbei.
Als es vorbei war, holte er seine Zeichensachen aus dem Schrank. Er hatte zu viel gegessen und getrunken und sich beim Trinken gefragt, was einen Leichenschmaus – bis auf die Kleiderwahl – von einer Hochzeit unterschied, und nach dem sechsten oder siebten Wodkaglas hatte er das auch laut in die Runde gefragt und wieder nichts als schockierte und entrüstete und auch traurige Blicke geerntet. Das hatte er noch nie verstanden, warum die Menschen Angst vor Fragen hatten. Er wollte schließlich nichts ändern, nur eine Antwort bekommen, vielleicht auch nur die Frage stellen. Als er die Blicke gesehen hatte, war er froh gewesen, dass seine Mutter nicht im Zimmer war. Toscha war da, sie war nicht auf dem Friedhof gewesen, wegen Timoschka, aber jetzt passte ihre Mutter, die vor drei Tagen angereist war, auf Timoschka auf, und Toscha aß ihren dritten Leichenschmausteller, schüttelte den Kopf und seufzte und verließ demonstrativ das Zimmer.
Abends, als alle gegangen waren, half Grischa noch alibihalber beim Abwasch in der Küche mit und wischte den Tisch ab und putzte den Herd und half, die Leichenschmausreste im Kühlschrank zu verstauen, bis alle ins Bett gegangen waren, dann konnte er sich endlich an den Küchentisch setzen. Er versuchte, die Gesichter zu zeichnen, die er nicht mit seinem Fotoapparat hatte festhalten können. Er summte dazu, weil er sich nicht traute, den Kassettenrekorder anzustellen, um niemanden zu wecken, «The Doors» hätte er gerne gehört, Hasenkopf hatte ihm eine Kassette besorgt, und er hatte sich nach den ersten Tönen verliebt. Die Gesichter wurden nicht, wie sie sollten, das hatte er ja geahnt. Immer dasselbe: Was sich fotografieren ließ, ließ sich nicht zeichnen, auch nicht malen, weil Farben selten eine Hilfe waren, meistens lenkten sie eher von den Tatsachen ab, und was sich zeichnen ließ, ließ sich auf einem Foto nur schwer festhalten.
Da er sechs, sieben oder noch mehr Gläser Wodka getrunken hatte und das trotz des vielen Essens spürte, schmiss er seinen Zeichenblock mit den Skizzen – Gesichter ohne Körper um ein Erdloch versammelt, in dem ein Sarg steckte, im Sarg schon riesige Würmer am Werk – später einfach auf den Schrankboden, unvorsichtig, er hatte seine Schwester nicht wecken, kein Licht einschalten, er hatte eigentlich nur schlafen wollen. Ein paar Tage später, als die Leichenschmausreste nicht mehr den Kühlschrank füllten, wollte seine Mutter seine schmutzigen Hemden waschen, die er gewohnheitsgemäß ebenfalls auf den Schrankboden warf, um sich nicht vorwerfen zu lassen, er hinterlasse nichts als Chaos, und entdeckte seinen Zeichenblock.
Seitdem hatte Grischa nicht mehr gezeichnet und auch nicht mehr fotografiert, es war fast ein Jahr her, und nun zog er eine Schublade nach der anderen aus seinem Schreibtisch auf der Suche nach einem Film und fand keinen, es musste doch irgendwo einer sein. Er konnte jederzeit zu Kostja gehen und dessen Dunkelkammer durchwühlen, aber er hatte keine Zeit. In einer halben Stunde musste er schon an der Dostojewskaja-Metrostation sein, um Asad zu treffen. Irgendwo musste doch, er schaute unters Bett, wo er Kartons aufbewahrte, die als Schubladen für alles dienten, was nicht in den Schrank oder die Schreibtischschubladen oder auf den Schreibtisch passte, da auch nicht, wo denn sonst, er überlegte, seine Mutter zu fragen, aber für Antworten auf ihre Fragen hatte er keine Zeit, obwohl er ausnahmsweise nichts vorhatte, was er verheimlichen musste. Er fand die Filme schließlich in seinem grünen Rucksack, natürlich, bei den Bienen hatte er ursprünglich fotografieren wollen, auch seine Kohlekreiden waren da drin, zudem «Der Graf von Monte Christo», eine zerfledderte Ausgabe, auf deren Inneneinband er mit Strichen notierte, wie oft er das Buch gelesen hatte, dreiundzwanzigmal
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