Die Listensammlerin
«Erzähl mir etwas über deine Familie, vermisst du sie?» Sie näherten sich immer noch schweigend der nächsten Querstraße.
Er spürte sein Herz plötzlich klopfen, aber nicht, weil er aufgeregt war (Aufregung war ihm fremd, war ihm fremd gewesen, bis er Sergej traf). Es klopfte, wie es immer klopfte, wenn es etwas zu tun gab, wenn das Reden ins Tun überging, wenn endlich etwas in diesem Land passieren sollte. Und etwas würde passieren, jetzt, demnächst, endlich. Etwas Großes, sein Leben, endlich ein Sinn.
«Fotografierst du immer noch?», fragte der andere plötzlich, nickte in Richtung des Fotoapparats, der um seinen Hals baumelte, sie hatten gerade die Querstraße erreicht.
Dann eben so. Die Entscheidung war ihm abgenommen worden, was ihm recht war. «Ja.»
«Immer noch Porträts? Du wolltest mir das Porträt geben, das du von mir gemacht hast.»
«Ja. Ich weiß. Ich habe es nicht geschafft, es heute aus der Dunkelkammer zu holen, entschuldige bitte.» Pause. «Ich plane gerade ein großes Projekt. Mit Fotografie. Mein Kopf ist … Ich bin nicht ganz da. Entschuldige bitte.» Er mimte den Verwirrten, den Künstler.
«Was für ein Projekt? Landschaftsaufnahmen?»
Im letzten Moment verkniff er sich ein Lachen. Landschaften hatte er als Kind gerne gemalt, damals, als er noch Wasserfarben aus der Schule verwendete. Seine Großmutter hatte seine Landschaftsbilder sehr geschätzt und sie sogar an die Wand gehängt.
«Nein. Ich will das fotografieren, was du angesprochen hast. Die Ungleichheit. Den Nicht-Kommunismus. Das, was fehlt: Gleichheit. Freiheit. Freies Denken. Humanismus. Das Unrecht will ich fotografieren.» Er verlangsamte oder beschleunigte seinen Schritt nicht, während er das sagte, was zu sagen er seit langem geplant hatte, und achtete darauf, in die Ferne zu starren, wie Sergej immer (er hatte ihn so oft dabei beobachtet, da musste er es selbst nun auch beherrschen).
Interesse war eindeutig da. Der andere bemühte sich, genau mit ihm Schritt zu halten, nicht zu schnell und nicht zu langsam zu gehen, und blickte ihn von der Seite an.
«Und wie?»
«Wie …» Pause, Blick in die Ferne, Stirn in Falten. «Es geht nicht um das Wie, es geht um das Warum.» Ein schöner Satz, dachte Grischa.
«Und warum?»
So gut lief es. Er hatte Hunger und wäre nicht unglücklich, bald zum angenehmen Teil des Abends, zum Essen, übergehen zu können.
«Weil es Zeit wird, dass das Unrecht, die Ungleichheit festgehalten wird. Weil man zeigen muss, wie Marx’ Ideen mit Füßen getreten werden. Wie sie ins Gegenteil verkehrt werden. Ja, das ist gut, das ist richtig! Das muss festgehalten werden, fotografisch!», beantwortete der Schwarze seine Frage selbst, und vor lauter Enthusiasmus legte er ihm einen Arm um die Schulter. Er fühlte sich nicht anders an, der schwarze Arm um seine Schulter.
«Ja!», rief er aus und musste sich nicht mühen, den Enthusiasmus ehrlich klingen zu lassen. «Ja! Das Unrecht zeigen will ich. Die Fehler im System! Der ganzen Welt will ich es zeigen! Dass man es endlich auf Papier sieht!»
«Der ganzen Welt?» Sie blieben nun beide stehen, schauten sich an. Passanten blickten sich nach ihnen um, nicht, weil sie so plötzlich stehen geblieben waren, sondern weil einer von ihnen schwarz war. Es schien Asad nicht zu stören, wahrscheinlich hatte er sich bereits daran gewöhnt.
«Ja, der ganzen Welt.»
«Aber wie?»
Und jetzt: «Ja, wie?» Keine Pause diesmal. «Ich dachte, vielleicht mit deiner Hilfe!»
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Siebzehntes Kapitel
Dinge, die Anastasia sammelt
• Briefmarken
• Federn
• Briefmarken mit Tieren
• Muscheln, interessant geformte Steine
• Blätter für ihr Herbarium
• Etiketten von Streichholzschachteln
• Abzeichen
• ausländische Münzen
• Drei- und Fünf-Kopeken-Münzen aus den Dreißigern und Vierzigern
• Postkarten (insbes. zu Themen: Neujahr, Weltfrauentag, Ehre der sowjetischen Armee)
• Flaschendeckel
• Bonbonpapiere
• Kalender, insbes. mit Stereobildern aus Zeichentrickfilmen oder Märchen
• Aufkleber zum Abziehen
• aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder westlicher Mode
• Zeitungsartikel, in denen Lev Tolstoj zitiert wird
• Bleistifte von Koh-I-Noor
• verschiedene Ausgaben von «Krieg und Frieden»
• alle Werke von Tolstoj
Sascha sagte, der Deutsche sei offen und nett und systemkritisch und passe auch ansonsten gut zu ihnen, und er gab sich alle Mühe, Sascha zu glauben. Er hatte
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