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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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haben wir Sie also aus der Trambahn gebracht.»
    «Vielen Dank, junger Mann!», antwortete sie, sah sich kurz um, bevor sie zu ihm aufblickte, dabei war er gar nicht so groß. «Wären Sie so nett, noch meine Einkaufsnetze bis zu meinem Haus zu tragen? Ich wohne gleich um die Ecke, dort drüben hinter der Wäscherei.»
    Er hatte weder Lust noch Zeit, aber sie war alt. Bestimmt hatte sie auch gegen die Deutschen gekämpft.
    «Aber natürlich!» Er nahm ihr die Einkaufsnetze ab, ging neben ihr her, während sie auf ihn einredete, ihr Enkel, der war vielleicht ein paar Jahre älter, der half ihr immer, aber jetzt, vor den Prüfungen … Er erinnere sie an den Enkel, allerdings so eine Jacke, so eine Jacke trage er nicht. Er wartete geduldig, er hatte plötzlich das Bedürfnis, sie nach dem Krieg zu fragen, nach den Deutschen. Was sie wohl davon hielt, dass er auf dem Weg war, einen Deutschen zu treffen, wollte er wissen, weil er nicht wissen konnte, was sein Vater davon gehalten hätte, wäre er noch am Leben.
    Seine Mutter hatte nie vom Krieg erzählt. Nicht vom Hunger. Nicht von ihrem Vater und ihren drei Brüdern, die allesamt nicht von der Front zurückgekehrt waren. Nicht, wie sie selbst überlebt hatte. Nicht, wie sie im Krieg seinen Vater kennengelernt hatte («als er auf Heimaturlaub war», und das sollte ihnen allen für immer als Antwort reichen). Nicht, wie sie seinen Bruder im Krieg zur Welt brachte. Nicht von den Deutschen. Seine Mutter erzählte von ihrer Kindheit im Dorf, und danach, so schien es manchmal, gab es nichts, bis es seinen Bruder und vier Jahre später ihn und noch zwei Jahre später seine Schwester gab. Als Jugendlicher hatte er manchmal ihre Kriegsgeschichten erzählt. In den Geschichten, die er erzählte, war sie eine Heldin, eine sowjetische, vor allem aber eine menschliche Heldin, die einmal sogar einem Deutschen half, der ihr mit Händen und Füßen erzählte (und die Erzählung hatte er mit seinen Händen und Füßen nachgemacht), dass in Berlin sechs Kinder auf ihn warteten, die Vollwaisen zu werden drohten. In anderen Geschichten war sie eine der wenigen Frauen an der Front gewesen, hatte dem Feind sozusagen direkt ins Gesicht geblickt. In allen kam sie gerade so in der letzten Sekunde mit dem Leben davon. Ein paar der Geschichten hatte er auf Bitten seiner Zuhörer auch in Anwesenheit seiner Mutter erzählt, sie hatte geschwiegen, und ihrem Schweigen und ihrem Blick konnte er nicht entnehmen, was sie von diesen Geschichten hielt, oder auch nur von seiner Manier, Geschichten über sie zu erfinden, während er sie erzählte.
    Sein Vater hatte auch keine Geschichten aus dem Krieg erzählt, aber sein Vater erzählte ohnehin nie etwas. Er hätte seinen Vater gerne erzählen gehört, in der Schule hatten die anderen sagen können, wie viele Faschisten ihr Vater oder ihr Großvater oder ihr Onkel getötet hatte, aber vielleicht erfanden sie das genau wie er. «Siebenunddreißig mein Vater, dreißig mein Großvater mütterlicherseits, von dem anderen Großvater weiß ich es nicht, er ist verschollen, aber mein Onkel, wisst ihr, mein Onkel, dem ein Bein fehlt, er hat das Bein verloren, kurz nachdem er sieben Faschisten direkt hintereinander erschossen hat! Alleine gegen sieben, und er hat überlebt», hatte er bei solchen Gesprächen immer erzählt, und widersprochen hatte ihm niemand, denn seinem Onkel Boris fehlte tatsächlich ein Bein, und dieses Bein hatte er tatsächlich im Krieg verloren. Wie, das wusste er nicht, Onkel Boris schwieg wie sein Vater, nur wenn er betrunken war, redete er, und wenn er betrunken war, warf ihn seine Mutter hinaus, und da er immer häufiger trank, kam er immer seltener zu Besuch.
    In der Schule hatte er viele Geschichten über den Krieg gehört und vieles darüber gelernt. Gelernt hatte er, dass die Deutschen Schweine waren, grausame Schweine. (Aber die sowjetische Armee hatte die Schweine selbstverständlich besiegt, im Großen Vaterländischen Krieg!) Seine Großmutter hatte hingegen schon des Öfteren fallenlassen, dass nicht alle Deutschen Schweine waren, und keiner hatte ihr widersprochen. Er selbst hatte das «Glasperlenspiel» verschlungen, nicht nur beim ersten Lesen. Sergej hatte Heine zitiert. Was fiel ihm noch ein? Ach ja, Hasenkopf hatte ihm eine Mütze geschenkt, die ihm jemand aus der DDR mitgebracht hatte und ihm zu klein war, Hasenkopf mit seiner Riesenbirne, und das deutsche Fabrikat hielt wirklich warm.
    Der Deutsche würde schon was

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