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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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gerettet und ihn ihrer Mutter überlassen, und ihre Mutter war ihm Mutter, Vater und Großmutter gewesen, und er wusste, auch ohne dass Sergej es sagen musste, niemanden liebte Sergej, wie er seine Großmutter liebte. Aber die Großmutter vergaß alles, auch den Herd auszuschalten, sich einen Mantel anzuziehen, wenn sie einkaufen ging, den Weg nach Hause, wenn sie eingekauft hatte, sich die Hose herunterzuziehen, wenn sie auf der Toilette war. Die Nachbarn beschwerten sich schon seit einer Weile, erzählte Sergej, und er hatte das Studium «unterbrochen», wie er sich ausdrückte, um sich um sie zu kümmern, aber arbeiten musste er dennoch, sie brauchten Essen und seine Großmutter Medikamente, er hatte nur noch nachts gearbeitet, aber seine Großmutter hatte angefangen, in den Nächten, wenn Sergej nicht auf sie aufpasste, in die Zimmer der Nachbarn zu irren und sie zu beschimpfen. Auch wenn sie ihn noch erkannte und ihm immer einen Scheitel kämmen wollte, wie sie das früher getan hatte. Sergej musste sie in ein Heim geben, er musste, es ging nicht anders, er hatte der Verwandtschaft am Ladogasee geschrieben, die sie auch nicht haben wollte, obwohl sie im Krieg – und nun heulte er so sehr, dass er nicht mehr weitersprechen konnte, er blickte fragend, klagend, bittend hoch zu Grischa, und sollte er? Nein, er hatte besänftigend gesprochen, Mitleid und Verständnis gezeigt, aber Sergej nicht angefasst, ihm noch nicht einmal die Hand auf die Schulter gelegt. Später, als Sergej sich beruhigt hatte, aber immer noch mit roter Nase auf dem Boden saß, hatte er gefragt: «Willst du es sehen?» Und er hatte ohne Erklärungen, obwohl er die fragenden Blicke, insbesondere den Alissas spürte, ihre Jacken geholt, und sie hatten sich auf den Weg gemacht zum gelben Haus.
    Es war umzäunt, der Zaun so hoch, dass man nicht hinüberblicken konnte. Sergej schaute sich um, vorsichtig, abwartend, und als er niemanden sah, die Straße war klein und unbelebt, rüttelte Sergej an einem der Zaunpfähle, bis der sich beiseiteschieben ließ. Grischa hatte nichts gefragt. Er hatte sich hinter Sergej durch den Zaun gezwängt und sich dabei zwei Splitter geholt, die er erst spätabends zu Hause herausholen würde, und zum ersten Mal die Schreie gehört. Dima hatte ihnen eine Hintertür aufgemacht, an die Sergej gepocht hatte. Sergej und Dima hatten kein Wort miteinander gewechselt, sich nur gegenseitig auf die Schulter geklopft, ihm hatte Dima die Hand entgegengestreckt, «Dima», «Grischa», das war der ganze Dialog. Sie waren Dima in eine Art Umkleideraum gefolgt, der ihn an seine Schulzeit erinnerte. Dima hatte jedem von ihnen einen Kittel in die Hand gedrückt und wortlos den Umkleideraum verlassen. Er hatte auch sonst nichts gefragt, beide trugen sie ihre Kittel über den Hemden, als sie den Umkleideraum verließen, seiner war ihm etwas zu groß. Niemand nahm sie zur Kenntnis, sie begegneten anderen in Kitteln, meist älteren Frauen, Pflegerinnen wohl. Er war Sergej gefolgt, der ihn durch die Gänge führte, Türen zu einzelnen Krankenzimmern öffnete und ihn dabei herumführte und dozierte, als wären sie in einem Museum. Als sähen sie Bilder, nicht Menschen, oder vielmehr Schatten von Menschen.
    «Hier sind die Kriegsverletzungen.» Er zählte nicht, hatte aber das Gefühl, weniger Beine, Arme, Augen zu sehen als Menschen, er sah Blut, Blut auf den Verbänden, Blut auf den Decken und Kissen, auch Blut im Gesicht des Mannes, der am nächsten zur Tür lag und weiter aus dem Fenster starrte, als stünden sie nicht dicht vor ihm, er sah außerdem einen offenen Knochen, mindestens ein Glasauge, Stümpfe, und er würgte, nicht nur, weil er nun auch den Mann am Fenster erblickte, dem einfach das halbe Gesicht fehlte, tatsächlich fehlte, die rechte Hälfte war es, die ihm fehlte, und unter der linken Gesichtshälfte, die ihm geblieben war, trug der Mann seine Armeeuniform mit all seinen Orden, wie sie Kriegshelden sonst am Tag des Sieges trugen, sondern er würgte auch, weil er den Geruch nicht mehr aushielt, der ihn im Flur schon gestört hatte und nun übermannte. Exkremente, Blut, altes, neues, vertrocknetes, Medikamente, Erbrochenes, Schweiß und wieder der Geruch des Todes. Sergej warf ihm einen Blick zu.
    «Runterschlucken. Wenn du die Toilette sehen würdest, ginge es dir noch schlechter. Kriegsverletzungen, wie gesagt. Nikolaj Sergejewitsch, Schlacht bei Charkow, siebenundzwanzig Orden, Tapferkeitsmedaille, das Gesicht wurde ihm

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