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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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von einer Granate weggeblasen. Jurij Grigorjewitsch, war Feldarzt, rettete über hundert Menschen das Leben. Bekam selbst Cholera, Blutvergiftung, beide Beine abgenommen, seitdem hier. Hat aufgrund einer chronischen Lungenentzündung keine Stimme mehr. Und hier», Sergej nickte nun zu dem Mann, der der Tür am nächsten lag und scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster starrte, «hier liegt Anatolij Iwanowitsch.»
    «Anatolij Iwanowitsch», unterbrach ihn die Stimme vom Bett, die den Kopf nun doch zu ihnen drehte, und er sah in ein Glasauge und daneben in eine leere Augenhöhle und würgte und schluckte, bis er sich endlich sicher sein konnte, nicht auf der Stelle erbrechen zu müssen, «dem Tode geweiht, aber leider nicht tot.»
    Sergej hatte einen Apfel aus seiner Tasche geholt und ihn wortlos Anatolij Iwanowitsch in die Hand gelegt, dann war er hinausgegangen. Der Mann mit dem halben Gesicht hob zum Abschied die Hand. Über den Flur eilten zwei Krankenschwestern, und eine verwirrte alte Frau im Nachthemd, die von den Krankenschwestern ignoriert wurde, irrte umher.
    Im nächsten Zimmer stank es etwas weniger bestialisch, dafür war der Anblick schlimmer. Im nächsten Zimmer waren Kinder. Manche sabberten, ihm fiel «Spast» ein, und dass er nicht genau wusste, was der Begriff bedeutete, in der Schule hatten sie einander manchmal so beschimpft. Jude, Spast, Idiot, alles das Gleiche. Zwei Jungs, beide ohne Beine, sie spielten Schach. Ein Mädchen saß in der Ecke auf dem Boden und schlug mit dem Kopf rhythmisch gegen die Wand. Einer keuchte so laut, dass Grischa es bereits im Flur vernommen hatte, und sein erster Gedanke war, man müsse ihm helfen, nicht dass er jetzt stirbt. «Kinder», sagte Sergej und beließ es dabei.
    Sergej zog ihn am Ärmel, weiter geht’s. Während er sich im Flur erholte, bevor – und diesen Moment fürchtete er – Sergej die Tür zum nächsten Zimmer aufreißen würde, dachte er kurz, er würde sich an den Geruch gewöhnen, vielleicht sogar an den Anblick, aber es schien ja mit jedem Zimmer nur fürchterlicher zu werden. Viele Alte, vielen fehlten Gliedmaße, Taubstumme, manche offensichtlich behindert, andere anscheinend verrückt, dazwischen immer wieder Normale. Männer und Frauen gemischt, manchmal auch ein Kind oder ein Jugendlicher in einem Zimmer voller alter Menschen. Sergej und er wurden meist nicht beachtet. In einem der Zimmer – acht Betten, sechs Frauen, ein Mann, zwei Frauen wimmerten, der Mann lutschte an seinem Daumen wie ein Säugling, eine Frau redete konzentriert in die eigene Faust, die sie sich vor den Mund hielt, eine andere schrie – war ein Bett frei.
    «Hier kommt meine Oma hin. Zu den Alten. Den Alten und den Verrückten. Hier wird Oma nun leben.» Sergej zeigte auf das leere Bett und dann in die Ecke, und es dauerte ein wenig, bis er verstand, was die Frau, die zusammengekauert im Bett saß, tat: Sie biss sich ins Knie. Immer wieder. Jetzt sah er auch das Blut, das an ihrem Bein entlang und dann auf die Decke tropfte.
    Und zum ersten Mal fragte er, seit sie das gelbe Haus betreten hatten, und es kam ihm vor, als müsste er seine Stimme suchen: «Und die Angehörigen? Die zu denen gehören?»
    Sergej lachte auf, ein fast hysterisches Lachen, zu hoch jedenfalls für seine normale Stimmlage, und schüttelte den Kopf. «Keine Angehörigen, kein Besuch. Wenn du Pakete vorbeibringst, landen sie beim Personal.» Das letzte Wort spuckte er regelrecht aus.
    «Und Dima?»
    «Dima ist der Bekannte eines Bekannten eines Bekannten. Dima wird mich reinlassen. Ich geb ihm ein Drittel meines Gehalts ab. Ich werde Oma besuchen kommen. Jeden Tag. Das habe ich mir geschworen.»
    Bevor sie gingen, bestand Sergej noch darauf, ihm ein weiteres Zimmer zu zeigen. Er wollte nichts mehr sehen, er wollte das gelbe Haus vergessen oder abbrennen, aber was sollte er tun. Sie mussten die Treppe hinunter, durch drei weitere dunkle Gänge, der Geruch veränderte sich, morsches Holz kam hinzu, weniger Pisse. Mit jedem Gang auch weniger Geschrei. Sergej blieb vor einer Tür stehen.
    «Ich will dir noch ein paar Leute vorstellen.»
    Er sehnte sich nach frischer Luft oder besser noch danach, ins Wasser zu springen. Eiswasser am besten.
    Hinter der Tür dieselben acht Stahlbetten, acht Männer, zum Großteil jünger als die Insassen oben. Einer vielleicht nur ein paar Jahre älter als Sergej und er, dieser lächelte sofort freundlich, sah von seinem Buch auf. Er las ein Buch. Oben las niemand. Zwei

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