Die Listensammlerin
spielten Schach, drei spielten Karten, einer schrieb. Alle murmelten sie «Guten Tag», verständlich und deutlich und offenbar erfreut, Besuch zu empfangen. Sergej holte Äpfel aus der Tasche, verteilte sie, sie bedankten sich höflich. Einer mit Schnauzbart, einer der beiden Schachspieler, kam ihm bekannt vor, die große Nase, die lockigen, grauen Haare, der breite Mund. Aber woher sollte er ihn denn kennen? Er wollte gern fragen, was macht ihr denn hier, wusste, das ging nicht, und eine bessere Formulierung fiel ihm nicht ein. Es kam selten vor, dass ihm nichts einfiel.
Gnädigerweise stellte Sergej ihm die netten Herren vor.
«Daniil Baumberg, schrieb regierungskritische Gedichte, trug sie bei einem Laienkunstabend im Betrieb vor.»
«Schreibt, nicht schrieb», verbesserte ihn der Mann und zeigte auf das Notizbuch in seiner Hand.
«Rudolf Kostarin, Übersetzer, half, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu übersetzen und unter die Leute zu bringen. Dmitri Jurjew, Neurologe, zeigte einen Kollegen an, der Operationen abbrach und Patienten sterben ließ, um Fußball zu schauen.»
«Der Fußballfan war Parteimitglied, wie sich herausstellte», der ehemalige Neurologe verzog den Mund und streckte ihm die Hand entgegen, «freut mich sehr. Man lernt hier nicht häufig jemanden kennen.» Die anderen taten es ihm nach, stellten sich nun selbst vor. Der Mann mit dem Schnauzbart war Wissenschaftler, und nun fiel ihm ein, woher er sein Gesicht kannte: Er hatte bei Hasenkopf zwei Bücher zum Hektographieren abgegeben, zwei Werke von Exilautoren, die er von einer Konferenz im Ausland nach Moskau geschmuggelt hatte. Er konnte sich an die Namen der Autoren und der Werke nicht erinnern, aber an Hasenkopfs Ehrfurcht, als der Wissenschaftler an der Tür stand. Sie wurden einander damals nicht vorgestellt, der Wissenschaftler war sofort wieder verschwunden.
Grischa fiel nichts ein, was er sagen könnte, es war nicht nötig, sie redeten selbst, fragten nach dem Wetter, nach den Nachrichten, dann mussten Sergej und er auch schon los, bevor die Krankenschwester mit den Spritzen kam. «Wir werden gleich stillgestellt», erklärte Daniil Baumberg.
An jenem Abend, an dem sie das gelbe Haus zum ersten Mal zusammen aufgesucht hatten, bevor sie anfingen, Sergejs Großmutter und die anderen dort täglich zu besuchen, bevor er anfing, seiner Mutter und auch der Frau von Nikolaj Petrowitsch Obst, Kuchen und andere Köstlichkeiten für diese Besuche zu klauen, hatte Sergej ihn zum Abschied umarmt (von sich aus), ihn dabei sehr lange festgehalten (von sich aus) und war ihm mit der Hand durch die Haare gefahren (von sich aus). Aber das war eine andere Geschichte.
Sergejs Großmutter lebte nun nicht mehr im gelben Haus. Sie lebte nicht mehr, sie war an einem Maitag gestorben, an welchem, da waren sie sich nicht sicher gewesen; bis die Nachricht die Hinterbliebenen erreichten, dauerte es oft ein paar Tage. Dima hatte im April aufgehört, im gelben Haus zu arbeiten, sie kamen nicht mehr hinein, und Sergej hatte angefangen zu trinken und aufgehört, ihn «mein Grischa» zu nennen. Ein Begräbnis hatte es nicht gegeben, sie hatten zwei Weinflaschen und den Rest einer Wodkaflasche geleert und geschwiegen, Sergej hatte nicht geweint, und danach waren sie zur Imkerei gefahren, weil sie damals noch beide dachten, das sei gut so. Das gelbe Haus stand immer noch da, und drinnen, so war er sich sicher, hatte sich nicht viel getan, es waren vielleicht welche gestorben, andere hinzugekommen, aber er war sich sicher, in den dunklen langen Gängen, in den Zimmern mit den jeweils acht Stahlbetten hatte sich nicht viel getan. Er wusste, der Pfahl des Zaunes, durch den Sergej und er monatelang jeden Abend hineingeklettert waren, stand noch lose, Sascha und er würden also aufs Grundstück kommen und dann ins Haus einbrechen müssen, und Hasenkopf und Kostja würden mit dem Auto draußen warten, für den Fall einer Flucht. Hasenkopf wollte ihm noch ein besseres Blitzlicht besorgen, es war sehr dunkel darin. Der Deutsche würde die Bilder nach Deutschland bringen, in den guten Teil Deutschlands, in die BRD . Er oder sein Professor kannte jemanden von der Presse, so genau hatte Sascha das nicht verstanden (das Russisch des Deutschen war wohl nicht so gut wie das von Asad, auch wenn er laut seiner Schwester Tolstoj las). Tanja hatte auch schon eine Wohnungsausstellung organisiert, bei der er die Bilder würde zeigen können. Eine Wohnungsausstellung war
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