Die Listensammlerin
nicht eben ungefährlich, wurden sie entdeckt, kamen die Bewohner und Besucher gern mal ins Gefängnis, Bilder gehörten in Museen, und welche Bilder das waren, entschieden Museumsdirektoren, und über Museumsdirektoren entschied das Ministerium für Kultur, überhaupt wusste das Ministerium für Kultur sehr gut über Kunst Bescheid. Erst recht aber diese Bilder – wenn das Ministerium abstrakte Malerei schon für gefährlich hielt, was sollte es denn von diesen deutlichen und hoffentlich scharfen Bildern halten? Tanja hatte von einem Leonid gesprochen, der eine Zweizimmerwohnung hatte (was ein wenig verdächtig war: Wie war jemand, der bereit war, eine provokante und gefährliche Wohnungsausstellung zu zeigen, an eine Zweizimmerwohnung gekommen?), und er hatte natürlich gefragt, warum Leonid, der ihn nicht kannte, den er nicht kannte, diese Bilder, die er aus seinem Kopf, seiner Vorstellung kannte und Leonid gar nicht, in dieser Wohnung ausstellen wollte? Er schätzte Tanja nicht als dumm ein, aber was, wenn sie sich doch reinlegen ließ? Sie hatte Leonid erklärt, was die Bilder darstellen sollten, er fand es einen wichtigen Anfang für die Sache.
Für die Sache!
Und das war, was Sascha nicht verstand, dass es um die Sache ging, nicht um ihn selbst. (Das hatte Sascha ihm alles vorgeworfen: dass er nur nach einem Lebensinhalt suche, dass er zu viel riskiere, und zwar nicht nur für sich selbst, dass er im Mittelpunkt stehen, mit seinen Bildern berühmt werden wolle.) Es ging aber um die Sache! Die Sache war sein Leben, andere Lebensinhalte hatte er nicht, aber dass sich beides, die Sache und sein Leben, vermischten, dafür konnte er nichts. Sascha hatte ihn auch gefragt, als er erfahren hatte, wie er auf das gelbe Haus gekommen war (und bevor er es erfahren hatte, hatte er die Idee sehr gemocht!), ob das Ganze nicht zu sehr mit Sergej zu tun habe. Er war zusammengezuckt (aber nur innerlich, nicht nach außen sichtbar). Was wusste Sascha, was ahnte er?
Das Ganze hatte rein gar nichts mit Sergej zu tun.
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Achtzehntes Kapitel
Es war traurig, dass ich jetzt, da meine Großmutter nicht hier war, so lange im Altenheim saß, dass ich mich nun nicht mehr beeilte, von hier wegzukommen. Nachdem ich Frank in der Wohnung meiner Großmutter getroffen hatte, die wir beide so nannten, obwohl ich die Sachen meiner Großmutter zur Altkleidersammlung und zum Wertstoffhof gefahren hatte und er sich um den Verkauf der Möbel kümmerte und die Wohnung schon lange nicht mehr wie die ihre aussah – und dass sie dort mal gelebt, dass sie sie auch nur betreten hatte, konnte ich mir nicht vor Augen führen –, da hatte ich nicht gewusst, wohin oder warum und wann oder wie. Frank wollte bleiben und «ein wenig räumen», wie er sagte, und was er «räumen wollte», da alles nun eigentlich weg war, und ob er Hilfe brauche, fragte ich nicht. Ich musste mich, als ich aus dem Haus trat, konzentrieren, blickte um mich und ordnete ein: den Bäcker an der Ecke, den Schlachthofgeruch, die breite, vierspurige Straße, um mich daran zu erinnern, wo die U-Bahn-Station war. Ich stieg in die Bahn, ohne eine Fahrkarte zu kaufen, und dachte an nichts und nur ein bisschen an einen Onkel Grischa, der mein Onkel war, obwohl ich nichts von ihm gewusst hatte, und dann noch an einen anderen Onkel, den auch Frank nicht gekannt hatte, der vielleicht irgendwo am Ende der russischen Welt lebte.
What the fuck?
Es dauerte, bis ich mir einen Sitzplatz suchte und an den Listen zu arbeiten begann.
Für Liste «Filmreife Szenen aus meinem Leben»
• Frank erzählt mir in der leeren Wohnung meiner Oma, die aus dem Heim entlaufen ist, von meinen Onkeln
Für Liste «Franks Eigenschaften»
• verschwiegen, kann Geheimnisse jahrzehntelang für sich behalten
• heimlicher Held
Für Liste «Eigenschaften, die auf das Altern meiner Eltern hinweisen»
• Frank erzählt Geschichten, die ich nur schwer glauben kann
• Frank wiederholt sich beim Erzählen
• Frank weint (sowohl in meiner Gegenwart als auch überhaupt)
Ich begann zwei neue Listen, «Was ich über Onkel Grischa weiß» und «Onkel Grischa als Romanheld».
Ich arbeitete bis zur Endhaltestelle an meinen Listen, behielt meine neuen sieben Punkte für die «Liste der Dinge, die ich über meinen Vater weiß» aber noch im Kopf. Ich würde sie zu Hause, am Schreibtisch, in Schönschrift wie zuletzt als Grundschülerin, direkt in die richtige Liste eintragen, sie waren mir
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