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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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taugen, er musste Sascha einfach vertrauen, dass der Deutsche genug Beziehungen und Verbindungen hatte.
    Er hatte lange überlegt, wo er fotografieren wollte. Wo die Aktion stattfinden sollte. Er hatte alleine überlegt, weil alle, die davon wussten, ständig mit Vorschlägen um die Ecke kamen. Für wen hielten sie sich? Es war seine Aktion, das Einzige, was in seinem Leben derzeit Sinn ergab. Er hörte sie an und nickte und ging im Kopf, während er so tat, als hörte er zu, und fleißig nickte, selbst mögliche Orte durch, und wusste eigentlich, dass er den perfekten, den einzig richtigen Ort schon längst gefunden hatte.
    Er erinnerte sich an den Tag, als er das gelbe Gebäude zum ersten Mal sah. Sie hatten sich mal wieder getroffen, mal wieder diskutiert, mal wieder geschimpft, jemand hatte eine Rede gehalten, jemand anderes hatte ein paar Gedichte gelesen, jemand hatte neue Pamphlete verteilt, ein anderer ein neues Samisdat-Buch weitergereicht, irgendjemand hatte selbstverständlich gesagt, es müsse was passieren (und es passierte selbstverständlich nichts) – es war wie immer und deshalb ein wenig langweilig, er hatte schon angefangen, wenn möglich, Wodka mit zu den Treffen zu bringen, selbst wenn sie mitten am Tag stattfanden. Dennoch war er zu dem Treffen gegangen anstatt zur Arbeit, und ein paar Wochen später hatte er seine Arbeit als Kantinenkoch verloren (es machte nichts, das Café gegenüber der Kantine hatte Kellner gesucht). Sergej war bei dem Treffen gewesen, das erste Mal seit Wochen wieder. Sie sprachen schon lange nicht mehr miteinander, seit ein paar Monaten schon nicht, seit Sergej ihn damals, als er ihn an der Universität abgefangen hatte, zum Teufel geschickt hatte, er müsse für die Prüfungen lernen, und mit an den Fluss könne er deshalb nicht, auch nicht in den nächsten Wochen, sie nickten sich seitdem nur zu, und er vergewisserte sich jedes Mal, dass Sergej als Erster nickte. (Einmal hatten sie diskutiert, nicht zu zweit, sondern in der Gruppe, und sie beide waren derselben Meinung gewesen und hatten für diese gekämpft, beide Hitzköpfe, auch Sergej in politischen Diskussionen ein Hitzkopf, und das hatte sich gut angefühlt.) Sergej war also wieder da, er hatte Ringe unter den Augen und jeweils einen dicken Verband um jeden Ellenbogen, so dick, dass er das karierte, ungebügelte Hemd hatte umkrempeln müssen. Sergej hatte ihm zur Begrüßung zugenickt, und er hatte zurückgenickt und viel mit Alissa gesprochen, die ihm in jener Zeit zu nahe kam, immer fasste sie ihn am Ärmel an, bat ihn demonstrativ schaudernd um seine Jacke, obwohl es nicht kalt war. Aber nach einer Rauchpause, die Sergej wie immer alleine in die Ferne starrend verbrachte, war er nicht wieder mit hereingekommen, hatte sich noch eine angesteckt und abgewunken, als alle hineingingen und nach ihm riefen. Er hatte gewartet, fünf, zehn, zwanzig Minuten, Sergej war nicht nachgekommen, konnte aber auch nicht gegangen sein, weil seine braune Jacke noch über der Stuhllehne hing. Er ging zur Toilette, hatte vor, auf dem Rückweg einen unauffälligen Blick nach draußen zu werfen, und fand Sergej auf der Toilette vor, wo dieser auf dem Boden kauerte und heulte. Er weinte nicht, er heulte. Er heulte die Wand an, als hätte sie ihm etwas zu sagen, oder, dachte er, während er immer noch in der Tür stand und nicht wusste, was er tun sollte, als flehe er die Wand um einen Gefallen an. Er hatte Sergej nur angestarrt, während Sergej die Wand anstarrte und heulte und ihn gar nicht wahrnahm, und erst nach ein paar Minuten gefragt, was denn los sei, und Sergej hatte, als hätte er nur auf ihn (oder auf jemand anderen, mit dem er hätte reden können) gewartet, angefangen zu erzählen und sich seiner Tränen nicht geschämt, wie Grischa freudig feststellte, während er zuhörte. Sergejs Großmutter würde in ein paar Tagen in ein Heim kommen, und er hatte damals nicht viel über Heime gewusst, aber dennoch sicher sagen können, sie würde nicht wiederkommen, sie würde dort verrotten, und er wunderte sich, während Sergej heulte und erzählte, dass ihm dieses Wort als Erstes in den Sinn kam: verrotten. Er hörte zu, vieles wusste er schon, Sergejs Großmutter hatte ihn aufgezogen, weil seine Eltern den Krieg nicht überlebt hatten, seine Mutter war zwei Wochen vor Kriegsende gestorben, ihre letzte Brotration hatte sie in Wasser aufgeweicht und dem Säugling eingeflößt, weil ihre Brust keine Milch mehr gab, sie hatte den Sohn

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