Die Löwen
ausnutzen, um ihn zu manipulieren - indem ich ihm vorgaukle, ich hätte Visionen und wäre ein unterwürfiges und kokettes Frauchen. Aber es hat gewirkt. Es hat gewirkt!
Sie ging weiter. Ihre nächste Aufgabe bestand darin, mit Jean-Pierre fertig zu werden.
Bei Einbruch der Dunkelheit würde er eintreffen, nachdem er die Mittagshitze abgewartet hatte und am Nachmittag aufgebrochen war, genau wie Mohammed. Jane hatte das Gefühl, bei Jean-Pierre leichteres Spiel zu haben als bei Mohammed. Erstens konnte sie mit Jean-Pierre offen sprechen, und zweitens war er im Unrecht.
Sie erreichte die Höhlen. Dort ging es jetzt sehr geschäftig zu. Eine Anzahl russischer Flugzeuge dröhnte am Himmel dahin. Jeder hielt in seiner Tätigkeit inne, um sie zu beobachten, obwohl sie viel zu hoch und viel zu weit entfernt waren, um Bomben zu werfen. Als sie verschwunden waren, streckten die kleinen Jungen die Arme aus wie Flügel und liefen, die Düsengeräusche nachahmend, auf dem freien Platz herum. Wen, ging es Jane durch den Kopf, bombardierten sie wohl auf ihren imaginären Flügen?
Sie ging in die Höhle, sah zuerst nach Chantal, lächelte Fara zu und holte das Tagebuch hervor. Sie selbst wie auch Jean-Pierre machten fast täglich Eintragungen, die in der Hauptsache medizinische Dinge betrafen. Sie würden es bei ihrer Rückkehr nach Europa mitnehmen, zum Nutzen derer, die anschließend nach Afghanistan gingen. Sie waren gebeten worden, auch persönliche Gefühle und Probleme festzuhalten, damit andere wussten , was sie zu erwarten hatten; und Jane hatte ziemlich ausführlich ihre Schwangerschaft und Chantals Geburt geschildert; doch war es natürlich ein stark
› zensierter ‹ Bericht, soweit es ihre Emotionen betraf.
Sie setzte sich, mit dem Rücken zur Höhlenwand und das Buch auf einem Knie; und sie beschrieb den Fall des Achtzehnjährigen, der an allergischem Schock gestorben war. Ihre Reaktion war ein Gefühl der Trauer, nicht der Depression – absolut natürlich, wie sie sich sagte.
Kurz vermerkte sie auch Details von anderen Fällen an diesem Tag; dann blätterte sie, eher beiläufig, im Tagebuch zurück. Die Eintragungen in Jean-Pierres fahriger, krakeliger Handschrift beschränkten sich auf wenige Worte, nicht selten nur auf ein einziges, fast ausschließlich Symptome, Diagnosen, Therapien und Resultate betreffend: Würmer zum Beispiel schrieb er oder Malaria, dann geheilt oder stabil oder, manchmal, gestorben.
Jane schrieb eher ganze Sätze, wie Sie fühlte sich heute Morgen besser oder Die Mutter hat Tuberkulose. Sie las die Eintragungen über die Anfangszeit ihrer Schwangerschaft, über ihre wunden Brustwarzen und dicker werdenden Schenkel und den morgendlichen Brechreiz.
Schließlich stieß sie auf einen Satz, den sie vor fast einem Jahr geschrieben hatte: Ich habe Angst vor Abdullah - das hatte sie ganz vergessen.
Sie legt das Tagebuch beiseite. Während der nächsten Stunden waren sie und Fara damit beschäftigt, die Höhlenklinik zu säubern und aufzuräumen; dann war es Zeit, hinunterzugehen zum Dorf, um dort zu übernachten. Auf dem Heimweg und später im Krämerhaus dachte Jane darüber nach, wie und auf welche Weise sich das unvermeidliche Gespräch mit Jean-Pierre führen ließe. Eine Idee kam ihr: Sie würde ihn bitten, mit ihr einen Spaziergang zu machen. Doch was sie zu ihm sagen sollte, wusste sie nicht.
Als er wenige Minuten später eintraf, war sie sich immer noch nicht darüber im klaren.
Sie wischte ihm mit einem feuchten Handtuch den Staub vom Gesicht und reichte ihm grünen Tee in einer Porzellantasse. Er war nicht erschöpft, nur auf wohltuende Weise müde. Jane wusste , dass er imstande war, weit größere Strecken zu Fuß zurückzulegen.
Während er seinen Tee trank, saß sie bei ihm und versuchte, ihn nicht anzustarren, wobei sie dachte: Du hast mich belogen. Nachdem er sich ein Weilchen ausgeruht hatte, sagte sie: » lass lass uns einen Spaziergang machen, so wie früher.«
Er musterte sie ein wenig überrascht. »Wo willst du denn hin?«
»Irgendwohin. Weißt du nicht mehr, im letzten Sommer, wie wir spazieren gegangen spazieren-gegangen sind, einfach um den Abend zu genießen?«
Er lächelte. »O doch, ich erinnere mich sehr gut.« Sie liebte ihn, wenn er so lächelte. Er fragte: »Nehmen wir Chantal mit?«
»Nein.« Jane wollte sich ganz auf das Gespräch konzentrieren können. »Bei Fara ist sie ja gut aufgehoben.«
»Na gut«, sagte er leicht verwundert.
Jane trug Fara
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