Die Löwen
möchte, dass du einen Läufer hinter dem Konvoi herschickst und Anweisung gibst, dass man auf der Rückkehr die Route ändert.«
Er musterte sie verblüfft - zweifellos hatte er irgendetwas Triviales, Alltägliches erwartet.
»Aus welchem Grund?« fragte er.
»Glaubst du an Träume, Mohammed Khan?«
Er zuckte die Achseln. »Träume sind Träume«, erwiderte er ausweichend.
Vielleicht war das nicht die wirksamste Art, die Sache anzugehen, dachte sie; eine Vision mochte ihr bessere Dienste leisten. »Als ich allein in meiner Höhle lag, in der Hitze des Tages, war mir, als sähe ich eine weiße Taube.«
Plötzlich hörte er aufmerksam zu, und Jane wusste , dass sie das Richtige gesagt hatte: Die Afghanen glaubten, dass in weißen Tauben manchmal Geister wohnten.
Jane fuhr fort: »Aber ich muss wohl geträumt haben, denn der Vogel versuchte, zu mir zu sprechen.«
»Ah!«
Offenbar nahm er es als ein Zeichen dafür, dass sie eine Vision gehabt hatte, nicht einen Traum. Jane fuhr fort: »Ich konnte nicht verstehen, was die Taube sagte, so sehr ich mich auch anstrengte. Ich glaube, sie sprach Paschtu.«
Mohammeds Augen weiteten sich. »Ein Bote aus dem Paschtunen-Gebiet…«
»Dann sah ich Ismael Gul, den Sohn Rabias, den Vater Faras, hinter der Taube stehen.«
Sie legte ihre Hand auf Mohammeds Arm und blickte ihm in die Augen. »In seinem Herzen steckte ein Messer, und er weinte blutige Tränen. Er deutete auf den Griff des Messers, als wollte er, dass ich es aus seiner Brust zog. Der Griff war mit Edelsteinen verziert.« Wo habe ich das bloß alles her? dachte sie. »Ich stand von meinem Bett auf und ging auf ihn zu. Ich hatte Angst, doch ich musste sein Leben retten. Als ich dann die Hand ausstreckte, um nach dem Messer zu greifen…«
»Was?«
»Verschwand er. Ich glaube, ich wachte auf.« Mohammed Schlossschloss seinen weit geöffneten Mund, gewann seine Fassung wieder und runzelte die Stirn: unverkennbares Imponiergehabe - er tat, als dächte er über die Deutung des Traumes nach. Und Jane dachte: Es kann nicht schaden, da ein bisschen helfen.
»Vielleicht ist ja alles nur Torheit«, sagte sie und gab ihrem Gesicht einen Kleinmädchen-Ausdruck: bereit, sich seinem überlegenen männlichen Urteil zu fügen. »Darum bitte ich dich ja, dies für mich zu tun, für den Menschen, der deinem Sohn das Leben gerettet hat - damit ich meine innere Ruhe wiederfinde.«
Sofort bekam sein Gesichtsausdruck etwas Hochmütiges. »Es erübrigt sich, eine Ehrenschuld einzuklagen.«
»Heißt das, dass du es tun wirst?« Er antwortete mit einer Gegenfrage. »Mit was für Edelsteinen war der Griff des Messers verziert?«
O Gott, dachte sie, was soll ich darauf erwidern? Smaragde vielleicht? Aber nein, die hatten eine besondere Bedeutung für das Fünf-Löwen-Tal , sodass die Erkl dass ng nahelag, Ismael sei von einem Verräter im Tal getötet worden. »Rubine«, sagte sie.
Er nickte langsam. »Hat Ismael nicht zu dir gesprochen?«
»Er schien es zu versuchen, war dazu jedoch nicht imstande.«
Er nickte wieder, und Jane dachte: Nun mach schon, gib dir endlich einen Stoß.
Schließlich sagte er: »Das Omen ist klar. Der Konvoi muss umgeleitet werden.«
Gott sei Dank, dachte Jane. »Ich bin ja so erleichtert«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Jetzt kann ich sicher sein, dass Ismael gerettet wird.« Sie fragte sich, was sie tun konnte, damit Mohammed auf keinen Fall seinen Entschlussentschluss änderte. Sie konnte ihn ja nicht gut auffordern, einen Schwur zu leisten. Sollte sie ihm vielleicht die Hand schütteln. Sie beschloss , sein Versprechen mit einer noch älteren Geste zu besiegeln: Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund, ganz kurz nur und sacht, sodass er kei dass Gelegenheit hatte, den Kuss zu Kusskuss dern oder zu erwidern. »Ich danke dir«, sagte sie. »Ich weiß, dass du ein Mann bist, der sein Wort hält.« Sie stand auf, und während er, noch ein wenig verwirrt, sitzen blieb, drehte sie sich um und lief den Pfad hinauf zu den Höhlen.
Auf der Anhöhe blieb sie stehen und blickte zurück. Mohammed, bereits ein Stück von dem zerbombten Haus entfernt, schritt mit energisch schwingenden Armen den Hang hinab. Der Kusskuss hat ihn ja mächtig in Schwung gebracht, dachte Jane. Eigentlich sollte ich mich schämen. Ich habe mir seinen Aberglauben, seine Eitelkeit und seine Sexualität zunutze gemacht. Als Feministin sollte ich auf keinen Fall seine Vorurteile
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