Die Löwen
hier oben fertig bin, komme ich nach.«
»Gut«, sagte Jane. Wahrscheinlich, dachte sie, will er Zeit gewinnen, um sich zu fassen: Damit er sich später hocherfreut über die glückliche Heimkehr geben kann.
Sie nahm Chantal auf und schlug den steilen Pfad Richtung Dorf ein. Durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen konnte sie die Hitze des Felsens spüren.
Noch immer war es zu keiner Konfrontation mit Jean-Pierre gekommen. Doch ewig konnte es so nicht weitergehen. Früher oder später würde er erfahren, dass Mohammed einen Läufer losgeschickt hatte, um den Konvoi umzuleiten. Natürlich würde er dann Mohammed fragen, warum das geschehen sei, und Mohammed würde ihm von Janes › Vision ‹ erzählen. Aber Jean-Pierre wusste , dass Jane an Visionen nicht glaubte …
Warum habe ich Angst? fragte sie sich. Nicht ich trage Schuld, sondern er. Und doch habe ich das Gefühl, sein Geheimnis sei etwas, dessen ich mich schämen müsste . Ich hätte sofort mit ihm darüber sprechen sollen, gleich an dem Abend, an dem wir auf den Uferfelsen kletterten. Indem ich es so lange für mich behalten habe, habe auch ich eine Art Doppelspiel getrieben. Vielleicht ist es das. Oder ist es vielleicht der manchmal so sonderbare Ausdruck in seinen Augen…?
Ihren Entschlussentschluss , nach Frankreich zurückzukehren, hatte sie noch nicht aufgegeben, doch war ihr bisher noch kein Mittel eingefallen, Jean-Pierre gleichfalls dazu zu bringen. Sie hatte alle möglichen bizarren Pläne ausgeheckt, angefangen vom Fälschen einer Nachricht, in der stand, seine Mutter läge im Sterben, bis hin zu der Idee, seinen Joghurt mit irgendwas so zu vergiften, dass sich Symptome einer Krankheit einstellten, zu deren Behandlung er unbedingt nach Europa zurückkehren musste . Der einfachste und vielleicht realistischste Gedanke war die Drohung, Mohammed zu verraten, dass Jean-Pierre ein Spion war. Naturlich würde sie das niemals tun, denn Jean-Pierre zu entlarven, bedeutete mit Sicherheit seinen Tod. Aber würde Jean-Pierre glauben, sie sei bereit, ihre Drohung wahr zu machen ? Wahrscheinlich nicht. Nur ein harter, skrupelloser Mann mit einem Herzen aus Stein konnte glauben, sie sei fähig, ihren eigenen Ehemann dem sicheren Tod auszuliefern – und falls Jean-Pierre ein derart harter und skrupelloser Mensch war, dann würde er eher sie umbringen.
Es fröstelte sie trotz der Hitze. Was für groteske Gedanken ihr da durch den Kopf gingen.
Einander umbringen, töten? Wenn zwei Menschen den Körper des anderen so sehr genießen wie wir, dachte sie, wie können sie dann jemals gewalttätig gegeneinander werden?
Als sie das Dorf erreichte, hörte sie wildes Knallen von Gewehrschüssen, eine übermütige Ballerei, die von einer afghanischen Feier kündete. Sie ging zur Moschee, wo sich ja immer alles abspielte. Der Konvoi befand sich im Hof, Männer und Pferde und Fracht inmitten lächelnder Frauen und quietschender Kinder. Jane stand ganz am Rande der Menge und sah zu. Das war es wert, dachte sie. Es war die Sorge wert und die Angst, wert sogar, dass sie Mohammed auf diese würdelose Weise manipuliert hatte -ja, es war all das wert gewesen, um dies hier zu sehen: unversehrt heimgekehrte Männer, wieder vereint mit ihren Frauen und Müttern und Söhnen und Töchtern.
Dann erhielt sie den größten Schock in ihrem ganzen Leben.
Mitten in der Menge, zwischen den Kappen und Turbanen, tauchte ein blonder Krauskopf auf. Zuerst erkannte sie ihn nicht, obwohl sie in der Herzgegend einen eigentümlichen Stich empfand, wie bei einem vertrauten Anblick. Dann tauchte er aus der Menge hervor, und sie sah, halb verborgen hinter einem unglaublich buschigen, blonden Bart, das Gesicht von Ellis Thaler.
Jane fühlte plötzlich eine Schwäche in den Knien. Ellis? Hier? Das war unmöglich.
Er kam auf sie zu. Er trug die lockere pyjamaähnliche Baumwollkleidung der Afghanen und um die Schultern eine schmutzige Wolldecke. Das Bisschen Gesicht, das sein Bart freigab, war stark von der Sonne gebräunt, sodass sein dass immelblauen Augen noch auffälliger wirkten als sonst, wie Kornblumen in einem erntereifen Weizenfeld.
Jane war wie vor den Kopf geschlagen.
Ellis stand jetzt vor ihr, mit ernstem Gesicht. »Hallo, Jane.«
Ihr wurde bewusst bewusst , dass sie ihn nicht mehr hasste . Vor einem Monat noch hätte sie ihn verflucht, weil er sie getäuscht und ihre Freunde bespitzelt hatte; doch jetzt war ihr Zorn verflogen. Sie würde ihn niemals leiden können, aber sie konnte
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