Die Löwen
geschah – wenn sie sich satt und behaglich fühlte, konnte sie nichts wecken, keinerlei Tumult, keinerlei Lärm. Auf Janes Stimmungen reagierte sie jedoch überaus sensibel und wachte oft auf, wenn Jane bekümmert oder verstört war, selbst wenn alles still blieb.
Jane setzte sich mit gekreuzten Beinen auf ihre Matratze. Sie betrachtete ihr schlafendes Baby und dachte an Jean-Pierre. Wenn er doch nur hier wäre, damit sie sofort mit ihm sprechen könnte. Sie wunderte sich, dass sie nicht wütender - geradezu außer sich - war darüber, dass er die Guerillas an die Russen verraten hatte. Lag es daran, dass sie sich damit abgefunden hatte, dass alle Männer Lügner waren? Glaubte sie inzwischen, die einzigen Unschuldigen in diesem Krieg seien die Mütter, die Ehefrauen und die Töchter auf beiden Seiten? Hatte die Tatsache, selbst Ehefrau und Mutter zu sein, ihre Persönlichkeit verändert, sodass eine solche Täuschung sie nicht länger in Zorn versetzte? Oder war die einfache Erklärung die, dass sie Jean-Pierre liebte? Sie wusste es nicht.
Im übrigen war es Zeit, über die Zukunft nachzudenken, nicht über die Vergangenheit.
Sie würden nach Paris zurückkehren, wo es Postboten und Buchhandlungen und Leitungswasser gab. Chantal würde hübsche Kleidchen bekommen und einen Kinderwagen und Wegwerfwindeln. Zu dritt würden sie in einer kleinen Wohnung mit interessanten Nachbarn wohnen, wo die einzige wirkliche Lebensgefahr von Taxifahrern drohte. Jane und Jean-Pierre würden von vorn anfangen und diesmal einander wirklich kennenlernen. Beide würden sie daran Arbeiten, die Welt allmählich und mit legitimen Mitteln lebenswerter zu machen, ohne Intrigen und Verrat. Ihre Erfahrungen in Afghanistan würden ihnen entsprechende Jobs bei der Entwicklung der Dritten Welt verschaffen, vielleicht bei der Weltgesundheitsorganisation. Ihre Ehe würde genau so sein, wie sie es sich vorgestellt hatte, genauer noch: ein Familienleben zu dritt, bei dem sich jeder glücklich und geborgen fühlte.
Fara kam zurück. Die Mittagsruhe war vorbei. Das Mädchen grüßte Jane respektvoll, sah nach Chantal und setzte sich, da das Baby schlief, mit gekreuzten Beinen auf den Boden, auf Anweisungen wartend. Sie war die Tochter von Rabias ältestem Sohn, Ismael Gul, der im Augenblick fort war, unterwegs mit dem Konvoi - Unwillkürlich hielt Jane den Atem an. Fara musterte sie neugierig. Jane machte eine abweisende Bewegung, und Fara schaute fort.
Ihr Vater ist bei dem Konvoi, dachte Jane.
Jean-Pierre hatte diesen Konvoi an die Russen verraten. Faras Vater würde beim Überraschungsangriff sterben - falls Jane nichts unternahm, ihn zu verhüten. Aber was?
Man konnte einen Boten ausschicken, der den Konvoi am Khaiber-Paß erreichte und auf eine andere Route dirigierte. Das konnte Mohammed arrangieren. Nur würde Jane ihm sagen müssen, woher sie wusste , dass dem Konvoi ein Überraschungsangriff drohte – und dann würde Mohammed Jean-Pierre umbringen, wahrscheinlich sogar mit bloßen Händen.
Wenn schon einer von den beiden sterben muss , dann lieber Ismael als Jean-Pierre, dachte Jane.
Dann fielen ihr die dreißig oder mehr Männer aus dem Tal ein, die beim Konvoi waren, und ihr nächster Gedanke war automatisch: Sollen sie alle sterben, bloß damit mein Mann am Leben bleibt? Khamir Khan mit seinem dünnen Bart, der alte, narbige Schahazai Gul, auch Jussuf Gul, der so schön singen kann, und Scher Kador, der junge Ziegenhirte, und Abdur Mohammed, dem die Vorderzähne fehlen, und Ali Ghanim, der vierzehn Kinder hat?
Es musste irgendeinen Ausweg geben.
Sie trat an den Höhleneingang und blickte hinaus. Nach der Mittagsruhe spielten die Kinder jetzt wieder zwischen Felsgestein und Dornenbüschen. Da war der neunjährige Mousa, der einzige Sohn von Mohammed – jetzt, da er nur noch eine Hand hatte, noch verhätschelter als zuvor -, der mit dem neuen Messer protzte, das sein Vater ihm geschenkt hatte. Jane sah Faras Mutter, die mit einem Bündel Brennholz auf dem Kopf den Hang heraufkeuchte. Dort drüben stand die Frau des Mullahs, die Abdullahs Hemd wusch. Mohammed und seine Frau Halima konnte Jane nicht sehen, doch sie wusste , dass er hier in Banda war, weil sie ihn am Morgen gesehen hatte. Inzwischen würde auch er mit seiner Frau und den Kindern zu Mittag gegessen haben - in ihrer Höhle; die meisten Familien hatten eine eigene Höhle. Dort konnte Jane ihn jetzt finden, doch sie scheute diesen direkten Weg: Das würde in der ganzen
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