Die Löwin aus Cinque Terre: Laura Gottbergs dritter Fall
ihnen über all die Jahre manchmal besser, manchmal schlechter ergangen, ehe man immer mehr brauchte und all das nicht genug war.
Für Maria Valeria war es genug gewesen, hatte ihrer Familie stets Rang und Macht in der Gemeinschaft der andern verschafft. Nichts ging ohne die Cabuns, Maria Valerias Vater war sogar Bürgermeister gewesen. Sie selbst hatte die Familie noch zusammengehalten, sie, Maria Valeria, als sie noch Mutter war und nicht Großmutter oder gar Urgroßmutter, der niemand zuhören wollte.
Es machte sie unglücklich, dass ihre Söhne nur noch aus Spaß zum Fischen hinausfuhren, dass sie darüber nachdachten, den Weinbau aufzugeben und die Felder zu verkaufen. Die Cabuns lebten inzwischen vom Tourismus, vermieteten Zimmer und kleine Wohnungen.
Die weniger geschickten und intelligenten Mitglieder der Familie machten die Betten, wuschen die Bettwäsche der Fremden, bereiteten das Frühstück. Die Klügeren organisierten die Vermietungen, betrieben einen Andenkenladen, ein Weingeschäft und eine Pizzeria. Die Cabuns hatten durch diese Aktivitäten durchaus nicht an Einfluss verloren, aber Maria Valeria empfand diese Anpassung an die lärmende Zeit als Abstieg.
Es fiel ihr auch schwer, die jungen Frauen in ihrer Familie zu verstehen. Sie sahen kaum anders aus als die Touristinnen, kleideten sich ähnlich, fanden junge Männer aus Amerika oder Australien interessanter als die einheimischen Männer. Tranken Wein mit diesen Kerlen, nachts auf den Felsen am Hafen.
Maria Valeria war der Ansicht, dass nur durch kluge Heirat die Zukunft der Familien gesichert werden konnte. Kluge Heirat, kluge Frauen und Kinder – das war nach Maria Valerias Überzeugung noch immer die Basis der italienischen Gesellschaft und im Besonderen der kleinen Gemeinden in den Cinque Terre. Aber die jungen Frauen versuchten das Land ihrer Vorfahren zu verlassen, jedenfalls wenn sie hübsch und gescheit waren. Und sie wollten keine Kinder, sondern einen Beruf. Manche wollten nicht einmal mehr heiraten. Alles Dinge, die Maria Valeria nicht verstehen konnte, denn sie hatte – bei aller Mühsal – ihren Platz in der Familie immer als mächtig empfunden. Sich selbst mächtiger als ihren Mann, obwohl sie ihm niemals die Illusion genommen hatte, dass er der Mächtigere war.
In dieser stürmischen Aprilnacht war der Südwind noch kalt, und doch saß Maria Valeria auf der Bank in ihrem winzigen Garten und starrte auf das schwarze Meer hinaus. Ab und zu trat der Mond hinter den Wolken hervor, dann tanzten plötzlich silberne Lichter übers Wasser, öffneten den Raum bis in die Unendlichkeit. Maria Valeria zog das dicke Wolltuch fest um ihre Schultern, zuckte zusammen, als eine riesige Welle mit dumpfem Knall gegen die Felsen unterhalb ihres Gärtchens schlug, wie ein Erdstoß das Land erschütternd. Sie schloss die Augen, wusste in diesem Moment, dass etwas geschehen war, das sie nicht hatte erleben wollen. Wusste, dass sie schon zu lange lebte, dass sie keinen neuen Schmerz aushalten wollte. Blieb sitzen, bis sie sich vor Kälte kaum noch erheben konnte, kroch endlich gegen Morgen ins Haus und zündete eine Kerze an. Für die Seele, die auf dem Weg in die andere Welt war. Dann setzte sie sich neben die kleine Figur der Heiligen Jungfrau – ein Geschenk ihres ältesten Sohnes – und wartete auf die Nachricht.
«SIE HAT KEINEN Ausweis bei sich, keinen Führerschein, gar nichts!» Kommissar Baumanns Stimme klang gereizt.
Laura Gottberg achtete nicht auf ihn. Sie kniete neben der jungen Frau nieder, unterdrückte den Impuls, ihr übers Haar zu streichen. Die Tote war höchstens Anfang zwanzig, vermutlich jünger. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Ihr Profil war fein gezeichnet, die Nase ein wenig zu ausgeprägt. Sie hatte dichte dunkle Brauen, lange Wimpern, die Lider halb geschlossen, als träumte sie nur vor sich hin. Wie ein wilder Strahlenkranz umrahmte das dichte dunkelbraune Haar ihr blasses Gesicht. Wieder kroch dieser ziehende Schmerz über Lauras Wirbelsäule hinab in ihr Becken. Sie kannte diesen Schmerz sehr gut. Immer schon hatte er sie vor lebensbedrohlichen Gefahren gewarnt, vor realen und fiktiven Abgründen.
Sie hat Sofias Haare, dachte Laura. Wenn Sofia ein paar Jahre älter ist, wird sie dieser jungen Frau sehr ähnlich sehen. Der Schmerz begann zu pochen, wenn sie an ihre Tochter dachte.
Laura schüttelte leicht den Kopf, versuchte sich gegen das Bild der Toten abzugrenzen, Hauptkommissarin der
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