Die Loge der Nacht
Kaiser mit Sachsen geschlossen hatte, anfangs eine Signal-wirkung auf die anderen kriegtreibenden Parteien erhofft hatten. Inzwischen war diese Hoffnung hinfällig geworden. Schweden und Frankreich hatten sich gar gegen Ferdinand II. verbündet, und neue Heere marschierten gegen die deutschen Lande auf .
Seufzend erhob sich Tobias von den Strohsäcken. Daß er sich nach ungewohnt ausdauerndem Schlaf immer noch müde und matt in den Gliedern fühlte, konnte er sich nicht erklären. Auch nicht, wovon der beharrliche Modergeschmack in seinem Mund rührte. Und warum fror ihn, obwohl von draußen einer der ersten Herbsttage sonnig warm und vielversprechend zu ihm hereinblinzelte?
Tobias hatte kein Wasser auf der Stube. Zum Waschen suchte er zumeist die öffentliche Stätte beim Brunnen auf, die für solche Bedürfnisse der Bürger vorgesehen war.
Da es Sonntag war und er sich von einer anständigen Abkühlung auch eine Rückkehr seiner gewohnt guten Laune und Befindlichkeit versprach, kam ihm in den Sinn, zum Neckar hinzugehen und in den seichteren Uferregionen des Stromes ein Bad zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit wollte er auch gleich seine Kleider anbehalten, um sie hernach im Geäst eines Strauches trocknen zu lassen.
Kristine würde dies gefallen. Sie war ohnehin mehr Sauberkeit und Annehmlichkeit gewohnt, als er ihr bieten konnte .
Tobias schloß seine Stube beim Weggehen sorgsam ab, obwohl er keine Güter von allgemeinem Wert darin verwahrte. Den Erlös, den er beim Verkauf des Elternhauses erzielt hatte, verwahrte treuhänderisch ein Mann, der sich im Umgang mit eigenem und anderer Leut' Vermögen vortrefflich verstand. An seiner Redlichkeit gab es für Tobias nicht den geringsten Zweifel.
Charles Belier, ein hugenottischer Emigrant aus Tournai, hatte sich und seiner Familie mit dem prächtigen Haus zum Ritter - eigentlich ein Palast -, das sich sechsstöckig an der Einmündung der Hauptstraße in den Marktplatz erhob, schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt. Er wohnte nicht nur darin, sondern führte in den zur Straße gelegenen Räumen auch sein Kontor, denn im Hauptgeschäft war er Tuchhändler.
Wie alt Belier war, wußte Tobias nicht, nur daß er den rechtschaffenen Mann in der letzten Zeit kaum noch zu Gesicht bekommen hatte. Man munkelte, er habe sich eine Krankheit eingefangen, gegen die noch kein Kraut gewachsen sei. Was daran den Tatsachen entsprach, vermochte Tobias nicht zu sagen. Die vereinbarte Auszahlung der Erträge aus seinem bescheidenen Vermögen gingen jedenfalls unverändert anstandslos und pünktlich vonstatten. Münze für Münze zählte man ihm seinen Zins allwöchentlich in die Hand -dies übernahm Beliers freundliche Gattin, die in mausgrauem Kleid hinter der Ladenkasse stand und sie verwaltete, während eilfertige Helfer um die Kundschaft herumscharwenzelten .
Tobias stieg das enge Treppenhaus hinab und gelangte auf demselben Weg wie Kristine in der Nacht hinaus auf die Straße - just in dem Moment, als der Schlag der Kirchenglocken ins Viertel getragen wurde.
Unbeirrt davon setzte Tobias seinen Weg fort und kämmte sich im Laufen mit den gespreizten Fingern durch das störrische Haar, das einen Schnitt vertragen hätte.
Erst als er seinen Blick auf die Gmelin-Apotheke von Kristines Vater richtete, geriet sein forscher Schritt, mit dem er die Schwere aus den Knochen zu vertreiben suchte, ins Stocken.
Alle Läden waren noch vor den Fenstern?
Der Anblick, so ungewöhnlich er war, fiel auch anderen Leuten auf, in der Hauptsache solchen, die gerade von ihrem Kirchgang zurückkehrten. Tobias schnappte Gesprächsfetzen auf, in denen sich eine kleine Gruppe darüber wunderte, daß der Gmelin Johann -sonst einer der Eifrigsten und Frömmsten - es heute versäumt hatte, mit Frau und Tochter der Predigt beizuwohnen.
Niemand beachtete Tobias, als er sich den Leuten im Sonntagsstaat wie beiläufig näherte, und noch weniger hätte jemand die Sorge ge-ahnt, die ihn jäh ansprang wie ein wildes Tier.
Was war geschehen, daß zu Mittag noch alle Fenster von Kristines Elternhaus verriegelt und verrammelt waren?
Tobias hatte ein untrügliches Gespür für Stimmungen anderer Menschen, deshalb bestand für ihn schon nach kurzem Zuhören kein Zweifel mehr, daß die hier versammelten Männer und Frauen seine Sorge teilten. Der Herr Apotheker, so der allgemeine Tenor, verschlief keinen Kirchgang, unmöglich!
Und selbst wenn - warum hatte nicht ein anderer aus der Familie die Läden aufgemacht?
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