Die Loge der Nacht
Stimmen, andere Rufe brachten Tobias schließlich zum Verstummen. Da lag er irgendwo in mannshohem Gestrüpp, das Gesicht und jeden freien Zoll Haut in Brennesseln getaucht und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als böte dieses Dach verläßlichen Schutz gegen Entdeckung.
Er hörte Auer und Henninger, die ganz nahe herumstreunten. Sie riefen seinen Namen, und ein jedesmal übersprang der Herzschlag in Tobias' Brust einen Takt.
Ihm war schlecht, und der Modergeschmack, den er eine Zeitlang nicht mehr wahrgenommen hatte, füllte seinen Mund nun wieder wie ein Batzen wurm- und madendurchsetzter Erde.
Er war überzeugt, daß sein letztes Stündchen geschlagen hatte. Er war überzeugt, daß die Männer ihn finden und umbringen würden - warum, wußte er nicht.
Er wußte gar nichts mehr.
Vielleicht hätte er in diesem Zustand nicht einmal mehr den eigenen Namen stottern können.
Alles um ihn herum versank. Er kniff die Augen zusammen, als könnte er damit auch anderen den Blick auf sich und sein erbärmliches Versteck rauben.
Vor seinem geistigen Auge erschien eine Spinne. Sie schaukelte an einem seildicken Faden und weidete sich an seiner Angst. Bis unvermittelt Flammen aus ihrem prallen Hinterleib sprühten und sie in sengender Hitze brieten, bis sie zur völligen Unkenntlichkeit verbrannt war!
Niemand mußte es Tobias sagen, er wußte instinktiv, daß er ihr diese verdiente Strafe gesandt hatte.
Er!
Wie damals dem blutrünstigen Landsknecht, dem Schlächter seiner Eltern!
Kein Zweifel, sie war neu in ihm erblüht, die Kraft, die ihm schon als Kind mehr Angst als Hoffnung gemacht hatte ...
*
Bei Einbruch der Dunkelheit kauerte Tobias immer noch in dem Gebüsch. Hunger und Durst wühlten in ihm. Seine Haut war blasenübersät und von den eigenen Fingernägeln blutig geschürft. Dennoch hielt er bis zur Nacht an diesem Platz aus.
Das Verhängnis war an ihm vorübergegangen. Auch mit vereinten Kräften hatten Auer und Henninger ihn nicht entdeckt, obwohl sie einige Male ganz, ganz nah herangekommen waren.
Und jetzt? Wo waren sie jetzt?
Irgendwann waren ihre Stimmen verstummt. Alles war still geworden, nur ab und zu unterbrochen von hallendem Glockenschlag, der den fragilen Eindruck von Frieden störte. So harrte Tobias also aus, bis zur Dunkelheit. Die Beine waren ihm vom langen Sitzen eingeschlafen und erwachten bei den ersten Gehversuchen kribbelnd wie ein Ameisenhaufen. Doch weit schlimmer als dies war die Furcht, die dem einstigen Waisenkind immer noch im Nacken saß.
Er hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Und auch wenn er keine Antworten auf die wirklich bohrenden Fragen fand, so war doch wenigstens eine Idee in ihm gereift, wie er den Schurken Auer und Henninger vielleicht doch noch das Handwerk legen konnte - ohne sich erneut der Gefahr ihres Zorns auszuliefern.
Und so schlich er nun durch die finstere Nacht. Die Wolken, die das Himmelszelt verhüllten, kamen ihm gerade gelegen. Auf leisen Sohlen umging er die Gebäude der Färberei und der Schmiede und gelangte auf allerlei Umwegen in die Nähe des Marktes, wo sich das eindrucksvolle Haus zum Ritter in schwindelerregende Höhen schraubte. Die Fassade war mit Erkern sowie in Stein gemeißelten Wappen und Porträts übersät. Ganz zuoberst schmückte die Ritterfi-gur, die dem Bauwerk den Namen gegeben hatte, den Giebel.
Da es in diesen Tagen schon wieder frühzeitig dunkel wurde, war es noch nicht wirklich spät. Hie und da waren Leute unterwegs, und auch hinter den meisten Fenstern von Charles Beliers privater Wohnung brannte noch Licht.
Tobias spähte aus einem Torbogen auf der anderen Straßenseite zum Palast des Tuchhändlers hinüber. Er war sich durchaus ungewiß, ob Belier ihm wirklich helfen, ihn vor weiterer Verfolgung schützen konnte. Aber den Bütteln wagte er sich nicht anzuvertrauen. Zu vieles hatte er schon von deren Übergriffen auf unschuldige Leut' gehört. Nein, der einzige, der ihm in Heidelberg vielleicht beistehen würde, war derselbe, der auch sein Geld verwaltete!
Sich dies einredend, huschte Tobias quer über die Straße zu der schlichteren von zwei Türen. Die andere führte in Beliers Laden. Zaghaft betätigte er den Messingklopfer, in den das Familienwappen des wohlhabenden Händlers kunstvoll eingearbeitet war.
Tobias zog wegen des Geräuschs, das er gerade selbst verursacht hatte, den Kopf tief zwischen die Schultern. Aber seine Sorge, draußen auf der Straße Aufmerksamkeit zu erregen, schien
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