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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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wirklich nur wenige Stunden vor ihm in Malones Arbeitszimmer gewesen? Und falls das stimmte: Was zum Teufel hatte er dort zu suchen gehabt? Lange war kein Mensch, der viel auf Zufälle gab. Die Antwort würde vermutlich in dem zweiten Dokument zu finden sein. Er öffnete es und begann zu lesen.
    Fünf Minuten später sah Lange wieder auf. Die Sache war noch schlimmer als befürchtet. Der israelische Agent, der in Tunis seelenruhig in Abu Jihads Villa marschiert und ihn umgelegt hatte, ermittelte jetzt im Fall der Ermordung von Benjamin Stern. Lange fragte sich, weshalb sich der israelische Geheimdienst für den Tod eines jüdischen Professors interessierte. Die Antwort lag auf der Hand: Stern mußte so etwas wie ein Agent gewesen sein.
    Lange war wütend auf Carlo Casagrande. Hätte Casagrande ihm gesagt, daß Benjamin Stern Verbindungen zum israelischen Geheimdienst hatte, hätte er diesen Auftrag wahrscheinlich abgelehnt. Die Israelis machten ihn nervös. Sie hatten andere Spielregeln als die Westeuropäer und Amerikaner. Sie stammten aus einer von Gewalt geprägten Umgebung, und der Schatten des Holocausts lag über jeder ihrer Entscheidungen. Beides bewirkte, daß sie mit ihren Feinden brutal und gnadenlos abrechneten. Nach einer Geiselnahme mit Lösegelderpressung, die Lange für Abu Jihad durchgeführt hatte, waren sie ihm schon einmal auf der Fährte gewesen. Damals war er ihnen nur entkommen, indem er zu der sehr drastischen Maßnahme gegriffen und alle seine Komplizen liquidiert hatte.
    Er fragte sich, ob Carlo Casagrande von den Ermittlungen dieses Israelis wußte – und weshalb er Lange dann nicht dafür engagiert hatte, diese Gefahr zu beseitigen. Aber vielleicht wußte Casagrande nicht, wo sich der Israeli aufhielt. Dank der Informationen aus Peter Malones Computer wußte Lange jetzt, wo er zu finden war, und er hatte nicht die Absicht, auf Casagrandes Anweisungen zu warten, bevor er etwas unternahm. Im Augenblick befand er sich leicht im Vorteil und hatte ein gewisses Zeitfenster zur Verfügung, aber wenn er sich nicht beeilte, würde dieses Fenster sich schließen.
    Lange kopierte beide Dateien auf eine Diskette, dann löschte er sie von der Festplatte. Katrine kam in ihre Daunendecke gewickelt die Treppe herunter und setzte sich ans andere Ende des Sofas. Lange klappte das Notebook zu.
    »Du hast versprochen, für mich zu kochen«, sagte sie. »Ich bin fast verhungert.«
    »Ich muß nach Paris.«
    »Jetzt?«
    Lange nickte.
    »Hat das nicht bis morgen früh Zeit?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Was ist in Paris so wichtig?«
    Lange sah aus dem Fenster. »Ich muß einen Mann finden.«
    Raschid Husseini sah nicht gerade wie ein professioneller Terrorist aus. Er hatte ein fleischiges rundes Gesicht und große braune Augen, die durch ihre schweren Lider stets übermüdet wirkten. In seinem verknitterten Tweedsakko, zu dem er einen Rollkragenpullover trug, erinnerte er an einen Doktoranden, der an seiner Dissertation arbeitet, die einfach nicht fertig werden will. Das kam der Wahrheit sogar ziemlich nahe. Obwohl Husseini nur selten Zeit fand, zu seinen Vorlesungen an der Sorbonne zu gehen, lebte er mit einem Studentenvisum in Frankreich. Er unterrichtete Englisch in einem heruntergekommenen Pariser Vorort, in dem vor allem Muslime lebten, arbeitete gelegentlich als Übersetzer und schrieb zwischendurch Hetzpamphlete für verschiedene linksradikale Blätter. Eric Lange wußte jedoch, woher Husseini sein wirkliches Einkommen bezog: Er arbeitete für eine Dienststelle der palästinensischen Selbstverwaltungsbehörde, die nur sehr wenige kannten. Raschid Husseini – Student, Übersetzer, Journalist – war der Operationschef des PLO-Auslandsnachrichtendiensts für Europa. Husseini war der Mann, den Lange in Paris aufsuchen wollte.
    Lange rief den Palästinenser in seiner Wohnung in der Rue de Tournon an. Dreißig Minuten später trafen sie sich in einer halbleeren Brasserie im Quartier Luxembourg. Husseini, ein Freidenker und palästinensischer Nationalist der alten Schule, trank Rotwein. Der Alkohol machte ihn redselig. Er hielt Lange einen Vortrag über die Leiden des palästinensischen Volkes. Seine Ausführungen waren praktisch mit denen identisch, mit denen er Lange vor zwanzig Jahren in Tunis malträtiert hatte, als er und Abu Jihad versucht hatten, Lange dazu zu überreden, sich für die Sache der Palästinenser zu engagieren. Das Land und die Olivenbäume, die Ungerechtigkeit und die Demütigungen.

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