Die Logik des Verruecktseins
der Sinnraum verloren ging und auch der persönliche, von den anderen generierte Bedeutungsraum, verliert das Ich in der Folge unter Umständen jeden Du-Raum und ist auf sich selbst beschränkt. Ohne den Sinn-Raum und ohne den Du-Raum ist der Ich-Raum nutzlos.
Reinhard Goering (1912)
So kann ich sitzen …
So kann ich sitzen und die Stunden fragen,
Was bringt ihr mir so trüber - trübster Fracht?
Und meine Stunden werden so zu Tagen,
Und alle meine Tage so zur Nacht.
Soll ich dem jungen Leben denn entsagen?
Wofür? Warum denn ist‘s in mir entfacht?
Ich bin ja willens, alles zu ertragen,
Was mir das Leben nur erträglich macht.
Ich sitze müde brütend, und ich winde
Vergeblich mich, vergeblich hin und her
Wie schon so viele andere und finde,
Was alle anderen fanden und nicht mehr:
Dass dieses Lebens bitteres Angebinde
Mir leer verfließt und ach, so schmerzlich leer.
Das Ich treibt endlos verloren durch ein Meer von Dus, zu denen kein Anschluss, keine Serienschaltung mehr gefunden werden kann. Obgleich mitten unter den anderen ist man allein. Die eigene depressive Desubjektivierung führt zur Deindividualisierung der anderen. Schmilzt das weg, was ich von mir als zu mir gehörig erlebt habe, meine Stärken, mein Können, meine Interessen, meine Wirkungsfähigkeiten auf andere, verliert jeder Einzelne da drüben seine Individualität. Stattdessen schalten sie sich zusammen zu einer polymorphen Megaeinheit, die mich nicht braucht und mich nicht achtet und auf mich schon lange nicht mehr achtet. Alles geht besser ohne mich, der Ablauf in der Familie, der Ablauf am Arbeitsplatz, überall, wo ich auf Menschen treffe, bin ich nur störend. Ich kann aus dem Leben gehen, da keiner mein Weggehen mehr bemerken würde.
Nicht selten kommt es dann zu Überraschungssuiziden, mit denen niemand gerechnet hat.
Zweite Außenraumbühne und ihre Depressionspotenz
Der Aufforderungscharakter, den die Welt für den explorationsfreudigen, hyperneugierigen »Gesunden« bereithält, implodiert an dieser Stelle. Die um mich herum befindlichen, anfassbaren Dinge sind nur noch Dinge und in ihrer Aufreihung mir gegenüber stärker als ich. Bereits Kleinstkinder spielen mit den für sie handhabbaren Dingen um sie herum und geben ihnen einen labilen Mehrwert, indem sie etwa aus Bauklötzen hohe Türme errichten. Was wir in der Folge auch im Erwachsenenalter tun, ist die Wiederholung dieser Mehrwerterschaffung in immer abstraktere Höhen hinauf.
Diese Mehrwerterschaffung wird nun bedeutungslos. Die Neugierde ermüdet, die Motivation erschlafft, die intentionale Absicht geht verloren. Die Realobjektdinge, mit deren Hilfe ich in die Welt hineinwirken könnte und sollte, singen endgültig nicht mehr. Sie stehen da, schweigend, gewichtig, unverrückbar, stumme Ankläger meiner Nutzlosigkeit.
Gottfried Benn (1954)
Melancholie (Auszug)
Was ist der Mensch, - die Nacht vielleicht geschlafen,
doch vom Rasieren wieder schon so müd,
noch eh ihn Post und Telephone trafen,
ist die Substanz schon leer und ausgeglüht,
ein höheres, ein allgemeines Wirken,
von dem man hört und manches mal auch ahnt,
versagt sich vielen leiblichen Bezirken,
verfehlte Kräfte, tragisch angebahnt:
Man sage nicht, der Geist kann es erreichen,
er gibt nur manchmal kurzbelichtet Zeichen.
Erste Außenraumbühne und ihre Depressionspotenz
Alles, was sich hier aufhält, wird auf seine Essbarkeit überprüft. Einem einzelnen Objekt gehört die ganze Aufmerksamkeit. Ist das Objekt ungefährlich genug und geeignet, dass ich es nicht nur nah an mich heranlasse, sondern auch in mir aufnehmen kann? Auch diese basalste Neugierde, die im ersten Draußensein nach der Geburt der Brustwarze der Mutter gilt, kann implodieren und somit erlöschen. Die Freudlosigkeit dehnt sich dann sogar auf das aus, was ich zum Überleben brauche. Aufgrund seines vorsprachlichen Charakters findet sich für dieses Urbedürfnis keine lyrische Beschreibung.
Innenraumbühne und ihre Depressionspotenz
Alles, was mich davon ablenken kann, dass eine gewaltige Kränkung jederzeit in mir abrufbereit ist, welche darin besteht, dass ich selbst somatisch angreifbar und letztlich sterblich bin, ist bereits implodiert. Jede Leichtigkeit ist verloren, jedes Auftriebmittel, das mir bisher geholfen hat, mich antigravitativ über die letzte Verzweiflung zu
erheben und hinwegzutäuschen, hat endgültig ausgespielt. Der Hauptwidersacher wird die Zeit. Sie verhält sich paradox, tritt einerseits
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