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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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psychopathologischen Meer der Menschen dar und nicht mehr und nicht weniger. Übergangs- und Mischformen sind möglich und beherrschen eigentlich die klinische Realität. Auch wenn wir gerade depressive und manische Symptome in ihrer Unterschiedlichkeit beschrieben haben, ist das hier zugrunde liegende Thema doch die Frage, was sie eigentlich mit der Funktionsweise im seelisch »gesunden« Zustand zu tun haben, wie ihr strukturelles Verhältnis zur psychischen »Normalität« ist. Deshalb, und hier kommt das oben bereits erwähnte drohende Missverständnis noch einmal in das Augenmerk, welches auftreten kann, wenn psychiatrische Erkrankungen aus evolutionär anthropologischer Perspektive begründet und erklärt werden sollen: Depression ist etwas grundsätzlich anderes als Depressionspotenz! Und Manie ist etwas anderes als Maniepotenz!
    Der Unterschied ist in etwa der gleiche wie zwischen einem gelungenen Gericht und einem misslungenen. Beide verfügen zu Kochbeginn über die gleichen Voraussetzungen, die gleichen Zutaten, dennoch
ist das Kochergebnis nicht dasselbe. Die Depression ist ein misslungenes Gericht, das ungenießbar ist, die Depressionspotenz, die alle Menschen in das soziale Spiel hineinwerfen können, wenn es darauf ankommt, ist ein gelungenes Gericht, auch wenn sie spärlicher Schmalkost gleicht. Wir werden dies in der Folge vertiefen. Hier aber zunächst noch so viel: Thema der folgenden drei Kapitel sind die evolutionär gewachsenen Voraussetzungen, die uns zu dem machen, was wir sind, und gleichzeitig den Horizont eröffnen für das, was wir im psychopathologischen Sinne sein können - bezogen auf die affektiven Störungen und bezogen auf die Schizophrenie. Das Thema ist nicht eine mögliche Deckungsgleichheit zwischen gesunder, evolutionär gewonnener Soziopotenz und psychopathologischen Entitäten. Ein solcher Ansatz würde unweigerlich scheitern, da er den Versuch bedeuten würde, Welten in eine Deckungsgleichheit zu bringen, die keine Deckungsgleichheit besitzen. Denken Sie noch einmal an die beiden oben erwähnten Kochgerichte. Sie sind nicht identisch, haben aber die gleichen Entstehungswurzeln. Diese Entstehungswurzeln sind es, die uns in der Folge vor allem interessieren.

20. Krisenzeit Depression
    Unerträglicher Volumenmangel des Seins
    Um nicht in die im letzten Kapitel beschriebene Verständnisfalle zu laufen, werden wir uns in diesem Kapitel nicht an fachpsychiatrischen Fallbeispielen abmühen, um die Brücke zwischen evolutionären Modulen und menschlicher Psychopathologie zu schlagen. Vielmehr werden wir uns auf andere Autoritäten beziehen, auf andere, außerklinische, eigenanamnestische Angaben, die allgemein zugänglich sind und von jedem nachgelesen werden können. Eigenanamnestische Angaben, die durch ihr Überleben im Zeitstrom und ihren Überstieg in das bürgerlich-ästhetische Kollektivgedächtnis gezeigt haben, dass sie implizite Wahrheiten der menschlichen Daseinsgefahren ausdrücken, denen man sich nicht ernsthaft verschließen kann, wenn man sich mit dem Verstehen von uns selbst auseinandersetzt. Gemeint sind semipathologische eigenanamnestische Angaben, gemeint ist Lyrik.
    Gedichte in einem Buch über menschliche Psychopathologie zu finden ist wohl äußerst ungewöhnlich. Hier soll aber der Versuch unternommen werden, dies zu wagen. Psychiatrische Fachbücher gleichen mittlerweile in ihrem Versuch, das Fachgebiet zu erläutern und zu transportieren, eher Fachbüchern der klinischen Chemie. Sie sind nüchtern, objektiv, kühl und im wissenschaftlichen Sinne zutreffend. Ihre Aussagen und Lerninhalte sind aber genauso objektiv, wie sie patientenfern sind. Und noch ferner sind sie von dem, was der Mensch ist. In seinem Erleben, in seiner subjektiven Wahrheit, in seinen existenziellen Ängsten. Keine Kunstgattung bringt aber genau dies so treffend auf den Punkt wie ein Gedicht. Dabei liegt die hier verfolgte Absicht nicht darin, eine kleine Literaturgeschichte der Psychopathologie vorzulegen. Es soll nur der Versuch unternommen
werden, komprimiert mit Hilfe der Lyrik im Leser jeweilig eine bestimmte Saite zum Schwingen zu bringen, die in den verschiedenen klinischen Depressionsthemen ebenfalls erklingt, aber so weit überspannt wird, dass sie schließlich reißt. Man kann das Psychopathologische im Gegenüber nur ansehend verstehen, wenn man bereit ist, in sich zu blicken. Lyrik kann hier ein Pfadfinder sein, ein Scheinwerferlicht, das bisher unbekannte Stellen unserer

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