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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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Erlebnisfähigkeit ausleuchtet und somit erst erkennbar macht.

Die menschliche Depressionspotenz: »Halte mich, du, ich falle!«
    Wir beginnen unsere anthropologische Erkundungsexpedition im Dreiecksniemandsland zwischen Evolution, Psychopathologie und Normalpathologie bei der Depression. Wir wollen sehen, wie sich das Thema Depression und die Depressionspotenz auf den fünf Außenbühnen und der Innenraumbühne entfaltet. Wir werden dabei sehen, so viel sei schon verraten, dass es »die« Depression gar nicht gibt. Es gibt nur Bühnenimplosionen und daraus folgende gestufte seelische Destabilisierungen, die an einem Wesen, das extrem haltbedürftig ist, nicht spurlos vorbeigehen können. Wem die gestufte Welt nach und nach implodiert, der findet keinen Sinn mehr in der Eroberung des Außen und dem ist die Welt in jeder Hinsicht zu groß geworden.
Die ungehörte Bitte um Halt
    Das depressionspotente Evolutionsmodul ist ein sich intrapsychisch entfaltendes Antwortmuster des Seelenlabyrinths mit Lösungspotenz für den Konflikt, dem das Seelenlabyrinth gegenübersteht. Gleichzeitig ist es ein auf Außenwirkung bedachter Kommunikationsstil. Ziel der Kommunikation ist es letztlich, natürlich nicht auf einer bewussten Ebene, die Mobilisierung von Hilfeleistungen durch die
anderen zu ermöglichen. Die »Depression« gleicht einer Kapitulationsoffensive in das soziale Außen, dem mit aller Kraft vermittelt wird, dass ein bestimmtes Bühnenthema nicht mehr ohne Hilfe bewältigt werden kann. Dass in der Moderne dieser appellative Charakter in einen leeren Resonanzraum fällt, gehört zu den tragischen Realitäten der Art und Weise, wie Menschen nicht zusammenleben, die auf engsten Raum zusammenleben. Therapeuten werden vor allem dort gebraucht, wo die Sprache der Depression aufgrund der modernen Lebensführung nicht mehr erlauscht wird und keine unterstützenden Antworten von dem formuliert werden können, den das depressive Geschehen erreichen soll.
    Eine Gesellschaft wie die unsere spricht in Bezug auf das Gesundheitssystem zwar permanent von Solidargemeinschaft, delegiert aber die Unterstützung in anonymisierte »geteilte Räume«: Andere, dem Kranken Unbekannte, arbeiten und erwirtschaften die Lohnfortzahlung über die Krankenkasse, eigentlich Fremde lauschen dem depressiven Ausdruck in Arztpraxen, psychotherapeutischen Praxen und Krankenhäusern. Die hohen Chronifizierungsraten der depressiven Erkrankungen haben meines Erachtens viel mit diesem, bisher nicht in der Fachwelt diskutierten Punkt zu tun. Menschliche Depressionsereignisse auf phänomenologischer Ebene entbehren zwar nicht ihrer evolutionär gewachsenen Wirkungsabsicht, sie entbehren aber immer häufiger ihrer Wirkung. Wenn Depressive verschlüsselt sagen: »Halte mich, du, ich falle«, so ist da häufig genug außerhalb therapeutisch geteilter Räume niemand, der Arme hinhält, die halten könnten. Ebenfalls tragisch ist dabei die Haltebereitschaft der somatischen Medizin, die nicht selten versucht, Depressionen somatisch zu behandeln oder gar zu operieren.
     
    Betrachten wir nun nach und nach die fünf Außenraumbühnen 82 und untersuchen wir sie mit Hilfe literarischer Äußerungen auf ihre Depressionspotenzen und ihre depressiven Ausformungen.

Fünfte Außenraumbühne und ihre Depressionspotenz
    Menschen sind Sinnsucher. Sie können alles ertragen, wenn es einen Grund gibt, der das Unerträgliche erträglich erscheinen lässt, mag der Grund anderen noch so skurril erscheinen. Wir sind darauf angewiesen, dass die fünfte Außenraumbühne eine Sinnklammer bildet, die das Geschehen auf den anderen Raumbühnen in ein generelles Bedeutungslicht taucht und somit alles für uns und unser Erleben zusammenhält.
    Implodiert die fünfte Außenraumbühne, sind Menschen nicht mehr in der Lage, sich weiterhin vorzumachen, dass die Nebensachen im Leben sich zu einer Hauptsache summieren sollen. Es schläft dann kein Lied mehr in allen Dingen, stattdessen wird alles schal und ist von höheren Bedeutungen unglücklich befreit, die bis dahin den Geschehnissen ihren Glanz verliehen. Man stand bisher morgens auf und wusste wofür. Geht das Wofür verloren, das über das Augenblickswofür hinausgeht, bleibt nur mehr ein schalbitterer Rest. Klang einem vorher von überall ein »Du darfst!« entgegen, flüstert es nun von allerorten auf einen ein: »Du musst!« Permanentanstrengung ist dort, wo vorher Leichtigkeit war.
     
     
    Friedrich Hölderlin (1805)
Hälfte des

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