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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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auf der Stelle und ist kein dienstbares Gefährt mehr bei der Reise durch die Lebensdinge, und gleichzeitig beschleunigt sie sich immer mehr und schmilzt zusammen zu einem kümmerlichen letzten Rest.
     
     
    Albert Ehrenstein (1910er-Jahre)
Leid
    Wie bin ich vorgespannt
Den Kohlenwagen meiner Trauer!
Widrig wie eine Spinne
Bekriecht mich die Zeit.
Fällt mein Haar,
ergraut mein Haupt zum Feld,
darüber der letzte
Schnitter sichelt.
Schlaf umdunkelt mein Gebein.
Im Traum schon starb ich,
Gras schoss aus meinem Schädel,
aus schwarzer Erde war mein Kopf.
    »Halte mich, du, ich falle!« Für den depressiven Menschen liegt die Rettung im Gegenüber. Auch wenn er sagt und innerlich auch zutiefst davon überzeugt ist, keine positive Hilfe mehr von anderen erfahren zu können, ist seine eigentliche Wirkungsabsicht doch auf die anderen gerichtet. Warum ansonsten sein Leid beklagen, seine Schlechtigkeit, wozu sonst das aufwendige Mitteilen der eigenen Hoffnungslosigkeit, wenn nicht doch irgendwo gehofft wird, dass jemand ein Ohr bereithält, welches die Aussagen und Überzeugungen der eigenen Hoffnungslosigkeit wohlwollend aufnimmt und sich somit zuwendet und schließlich die Bühnenimplosion verhindern hilft?

    Wer das nicht mehr kann, der nimmt als vielleicht doch noch letztes Mittel das Ruder der sozialen Navigation selbst in die Hand. Das letzte Mittel zur Vermeidung der Bühnenimplosion ist dann der Versuch, sich gegen die zusammenrückenden Bühnenwände zu stemmen und sich selbst auf ihre Themenfelder auszudehnen. Das letzte Mittel zur Vermeidung der depressiven Leere ist das manische Gegensteuern. Ihre Krisenzeit ist die Volumenüberfülle des Seins zur Vermeidung eines unerträglichen Volumenmangels.

21. Krisenzeit Manie
    Überfülle des Seins
    Ein Wesen, das darauf angewiesen ist, Sexualpartner zu finden und zu beeindrucken, um sich zu reproduzieren, muss in der Lage sein, sich die Attitüde des Siegers überzustreifen. Wenn ein Teil der menschlichen Depressionspotenz darin besteht, sich über die eigene Unzulänglichkeit, das eigene Ungenügen nichts mehr vormachen zu können, dann besteht die Maniepotenz darin, die eigenen Zweifel über sich beiseitezuräumen und vor sich selbst strikt zu ignorieren. Das dynamisch dehnbare Selbstwertgefühl bläht sich hierzu so weit auf, dass die eigene Sicht auf die Umstände um einen herum von einem selbst ganz eingenommen wird. Dann ist man selbst die ganze Fülle der Außenraumbühnen und besetzt jeden Winkel mit unerschütterlicher Selbstsicherheit.

Die menschliche Maniepotenz: »Ich fliege über euch hinaus«
    Wenn der depressive Mensch sagt: »Überall, wo ihr seid, werde ich nicht mehr gebraucht«, dann sagt der manische Mensch: »Überall, wo ihr noch nicht seid, bin ich schon angelangt!« Dementsprechend ist die Aufmerksamkeit überall und nirgendwo. Das Denken schnell und vielschichtig. Die Stimmung gehoben. Wer sich aber offensiv in den sozialen Raum hineinwagt, der muss in der Lage sein, die kritisch bewertenden Blicke der anderen auch auszuhalten. Vor allem, wenn er den gefährlichen, narzisstisch motivierten Sog des »Noch mehr« in sich spürt. Für den weiterhin in Serienschaltung bleibenden »Gesunden« ist der Höhenaufstieg stets mit Höhenambivalenzen gekoppelt, welche durch die Angst vor der möglichen Abkehr der Blicke hervorgerufen wird. Wenn Dädalus seinen Sohn Ikarus vor ihrem gemeinsamen
Fluchtflug warnt, nicht zu tief zu fliegen, da ansonsten die Feuchtigkeit des Meeres die Flügel zerstören könnte, und auch mahnt, einen Überaufstieg zu meiden, dann ist ausgesprochen, zwischen welchen Extrempositionen sich der Mensch im sozialen Miteinander auszupendeln hat und welche Permanentanstrengung er selbstregulativ über die Rückmeldungen der anderen aufbringen muss.
    Dem Aufsteiger können die Bewertungen der anderen dabei nicht so wichtig sein wie dem Absteiger. Er will ja nicht gehalten oder besser, aus seiner Sicht, aufgehalten werden, er braucht die anderen nur zum Emporheben und hat sie dann überwunden. Auf- und Absteiger rauschen vorbei an den anderen, aber eben in gänzlich unterschiedlichen Richtungen. Den Verlust von Nähe, Zuwendung und Bedeutsamkeit spürt derjenige, der an Bedeutungshöhe verliert, schmerzlich. Nähe und Zuwendung hingegen braucht der Aufsteiger nicht im gleichen Maße, sie halten ihn vom Aufstieg eher ab und bremsen seine Auftriebsgeschwindigkeit. Depressive Menschen spüren schmerzhaft den Verlust von Serienschaltung,

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