Die Logik des Verruecktseins
diesem ersten Miteinandersein und den süßen Geschmack der Unabhängigkeit kosten durften, wollen wieder heraus in die Welt, die uns ein anderes, ein geweitetes Sein im Raum ermöglicht. Was aber wäre, wenn man hier nicht mehr herauskäme? Wenn man hier für immer feststecken würde? Für immer gefangen bliebe?
Die Angst, lebendig begraben zu sein
Wir spüren, dass die Taphephobie 6 die intuitiv verständlichste aller Phobien ist. Intuitiv fürchterlich verständlich, weil ihr Thema von einem atmosphärischen Déjà-vu erzählt: der Angst vor dem Steckenbleibenkönnen beim Herauswollen aus der zu eng gewordenen primären Schutzkapsel. Es gibt in uns kein explizites Erinnern dieser Situation, wir können nicht anekdotisch schwärmen: »Wir sind dabei gewesen!« Doch wer sich aus eigenem Antrieb, verbunden mit der unerbittlich assistierenden mütterlichen Umgebungsperistaltik, aus dem ersten Eingeschlossensein glücklich herausgetrieben hat, trägt diesen Drang als zutiefst verankerten Vermeidungsimperativ für den Rest seines Lebens in sich: Nie wieder sollen wir eingesperrt sein in einem Engeverhältnis, das uns unüberwindlich umschließt.
Wir erinnern uns, dass wir am Beispiel Spocks gelernt haben, dass in der evolutionären Entwicklung hin zum Menschen die Engeverhältnisse am Ende der evolutionär strategisch »erfundenen« Innenbebrütung immer stringierender zugenommen haben und zunehmen mussten. Daher stammen unsere Ängste vor engen Räumen, die zu einer ausweglosen Falle werden können. Viele Menschen spüren ein Unbehagen vor solchen Räumen, wie etwa Fahrstühlen, und meiden sie, wo sie nur können. Diese Vermeidung bezieht sich aber nicht nur auf die konkrete Seite der ersten Beziehungserfahrung, die im Uterus beginnt und real-konkret dort einen mich umschließenden Raum bedeutet. Den Raum bildet ja ein Mensch und somit existiert schon in der ersten Situation, im ersten uterin gelebten Miteinander, auch eine unkonkrete »Raumbeziehung« zwischen dem Embryo und seiner Mutter. Im späteren Leben können deshalb zwischenmenschliche Beziehungen, die sehr eng werden, sich wie ein Gefängnis anfühlen, dem man entgehen will und das man meiden muss. Bergungsbereitschaften, die ein anderer für mich bereithält, können mir dann wie eine mit süßen Versprechen getarnte Falle erscheinen, die zuschnappt und mich gefangen hält, wenn ich mich auf sie einlasse. Beziehungsambivalenzen, wie sie sich beispielsweise bei der Frage nach Heiratsbereitschaft hochschaukeln können, sind hier begründet.
Der Mensch als innenbrütendes »Plazenta-Tier«
Bleiben wir aber einen Moment noch ruhig im Zentrum menschlicher Beziehung liegen. Erinnern wir uns im Folgenden immer daran, dass wir uns auch hier vornehmen, kulturelle Einflüsterungen von Draußen zu überhören. Vergessen wir für einen Augenblick unseren Individualfetischismus. Vergessen wir die Texte der modernen Freiheitshymnen und ihrer Schwester, der Abhängigkeitsphobie.
Dann wandelt sich der Ort unvermittelt zur Leichtigkeit.
Dann ist da kein Wollen
Kein Gestern, kein Morgen
Nur ein Schweben, ein wiegendes Weben
ein wortloses Weilen und doch sanftes Enteilen
ein Sichverschließen und ein Sich-selbst-Wiederfinden
eine ständige Rast ohne Hast
ein dauerndes Gastsein
ein Dauern
ohne Bedauern
ohne Licht ohne Pflicht
verschmelzen Zeit und Traum
und gerinnen ohne Erinnern
zu Sein im Raum
Es bräuchte die Begabung eines Lyriker, der stumm seine Lesung hält, um diese Stimmung treffend zu beschreiben …
Bevor wir uns aber ganz zu verlieren drohen, greifen wir als rettende Orientierungshilfe zu unserem Evolutionskompass:
Erdgeschichtlich betrachtet befinden wir uns in der Zeit vor etwa 100 bis 150 Millionen Jahren. Die Evolution hat gerade Plazenta-Tiere »erfunden«, also Tiere, die die Ablage ihrer befruchteten Eier nicht mehr in das Draußen betreiben, sondern in das Innen. Ein enormer Nachteil, weil die mütterlichen Organismen von da an einen Nachwuchsparasiten mit sich herumtragen, der über die gesamte Tragzeit seine Ansprüche unmittelbar mit der Mutter aushandelt.
Gleichzeitig (natürlich) ein noch viel größerer Vorteil: Durch die Eiablage und Nidation in das Innere eines Warmblüters findet das befruchtete Ei ein konstantes Milieu vor. Dies erleichtert wesentlich die Embryonalentwicklung eines Lebewesens. Warum?
Um dies zu beantworten, machen wir einen Sprung in die heimatliche Alltagserfahrung des Lesers. Es verhält sich nämlich mit den Vorteilen
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