Die Logik des Verruecktseins
konversionsneurotischen Symptomatik und kann dann für Tage das Bett nicht mehr verlassen. Die Opiatdosis wird dann wiederholt wieder erhöht.
Eine weitere außerklinische Aktivität führt zu dem Friedhof, in dem die Verwandten bestattet sind. Herr Naseberg zeigt dem wieder begleitenden Bezugspfleger das anonyme Bestattungsfeld. Hier seien sie beerdigt. Auch an diesem Ort bleibt der Patient frei von emotionalen Trauerregungen. Nach mehreren Wochen fruchtloser Behandlungen mit Einzelgesprächen, Visiten, Fallbesprechungen und Supervisionen regen sich bei verschiedenen Mitarbeitern leise Zweifel an der Geschichte des Patienten. Unabhängig voneinander recherchieren sie im Internet und überprüfen über Zeitungsonlinemeldungen Ort und Zeitpunkt des berichteten Unfallgeschehens. Tatsächlich gab es zum angegebenen Zeitpunkt verschiedene Kleinflugzeugabstürze in Europa mit Todesfolgen. Das vom Patienten mit Ort und Zeitpunkt datierte Unglück in Frankreich lässt sich nicht bestätigen. Die Behandler, die sich über ihre Zweifel austauschen, werden jetzt gegenüber dem Patienten fordernder. Die Opiatmedikation wird unter lautem Protest reduziert. Der Patient beschwert sich bei seinen stationären Mitpatienten, die wiederum den Behandlern aufgrund ihrer vermeintlichen Kaltherzigkeit Vorwürfe machen. Die Stimmung knistert auf der Station. Herr Naseberg wird im Kontakt mit den Behandlern zunehmend gereizt und vorwürflich. Mittlerweile hat sich das übergroße Mitleid der Behandler jedoch aufgezehrt. Bei einer ärztlichen Visite wird Herr Naseberg dann über die Zweifel der
Behandler informiert, und es werden »Beweise« für seine Behauptungen eingefordert. Empört verlässt der Patient, schwer auf seiner Krücke gestützt, humpelnd sein Zimmer und lässt die Visitierenden stehen. Er kehrt nicht auf die Station zurück. Seine Krücke finden Mitarbeiter im Gebüsch in der Nähe des Klinikausgangs. Einen Tag später, nach mehrwöchiger stationärer Behandlung, trifft die Nachricht der Krankenkasse des Patienten ein, dass dieser bereits seit vielen Monaten keinen Versicherungsschutz bei ihnen mehr genieße. Aufgrund wiederholter Erschleichung von Krankenhausleistungen zur Befriedigung seines Opiathungers war Herrn Naseberg von seiner Krankenkasse gekündigt worden. Tatsächlich hatte er eine psychiatrische Erkrankung, nämlich eine Opiatabhängigkeit, auf diese die Behandler jedoch, geblendet durch die emotionale Wucht der erfundenen Schicksalsgeschichte, nicht gekommen waren. Herr Naseberg hatte alle Beteiligten über Wochen an der Nase herumgeführt. Der auf Station zuständige Psychologe fasste den Fall Naseberg mit einem Wort treffend zusammen: »Er ist ein Emotionsbetrüger.«
Operationalisierung der Pyschopathologie: Symptome statt Ursachen im Blick
Der Fallbericht zeigt uns verdichtet an einem Patienten die Differentialdiagnosen der stuporösen Phänomene. Die Vorgehensweise der Ärzte bei der Diagnosefindung hat nämlich versucht, Schritt für Schritt verschiedene Ursachen des bestehenden klinischen Bildes auszuschließen.
Eine reale Funktionsstörung des Gehirns, beispielsweise eine Encephalitis oder ein Gehirntumor, kann zu einer funktionell begründeten Reduktion des Binnenvolumens führen. Der krankhafte Prozess im Gehirn hindert dieses daran, voll zu arbeiten, und das Gehirn ist nur noch »auf Sparflamme« tätig. Dieser Krankheitsursache verwandt ist eine sogenannte »symptomatische Mitreaktion« des Gehirns, also eine Funktionsstörung des Gehirns bei Krankheitsprozessen, die außerhalb des Gehirns liegen, wie etwa die stuporösen
Zustände bei hohem Fieber. Säuglinge und Kleinkinder, deren Gehirnfunktionen generell noch sehr sensibel sind, entwickeln im Rahmen von Fiebererkrankungen nicht selten psychische Ausnahmezustände. Die kleinen Patienten wirken wie in Trance, weggetreten und nicht richtig erreichbar. Auch eine Intoxikation durch Drogen, Alkohol oder Psychopharmaka in unphysiologisch hohen Dosierungen beraubt das Gehirn seines ausgedehnten Binnenvolumens und kann ein reduziertes Binnenvolumen mit stuporösem Aussehen provozieren. Bei allen drei genannten Ursachen spricht man am besten von »körperlich begründbaren Psychosen«. Eine Psychose meint immer krankheitsverursacht eine tiefgreifende Veränderung des Erlebens, Denkens und Handelns eines Menschen. Im Falle Naseberg hatte die apparative Diagnostik nach und nach alle somatischen Krankheitsursachen ausgeschlossen. Blieb nur noch eine
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