Die Logik des Verruecktseins
Schmerzmedikation und ein Wechsel auf immer stärker wirkende Mittel. In der Nacht trifft ihn die Nachtschwester bei ihrem Routinedurchgang tränenlos weinend im Bett liegend an. Im Halbschlaf murmelt er verzweifelt: »Alle tot.«
Am nächsten Tag wird der Psychiater um ein Konsil gebeten. Da jeder Hinweis auf eine somatische oder neurologische Erkrankung fehlt, soll der Psychiater helfen, im Gespräch mit dem Patienten eine mögliche psychische Ursache für die Symptomatik zu finden. Im Verlauf des psychiatrischen Konsils antwortet der Patient auf gezielte Fragen entweder gar nicht oder zeigt eine deutliche Aversion, über seine Anamnese zu berichten. Nachdem aber schließlich genug Vertrauen aufgebaut werden konnte, berichtet der Patient von seiner Vorgeschichte.
Der Bericht wird dabei kühl und sachlich gegeben, ein adäquater Affekt fehlt. Seit drei Monaten sei sein ganzes Leben zerstört. Während eines Rundflugs in Frankreich, an dem er eigentlich habe teilnehmen wollen, sei es zu einem Unfall gekommen. Dabei sei das Flugzeug abgestürzt und ausgebrannt. Niemand habe überlebt. In dem Flugzeug seien seine Frau, seine beiden Kinder, seine Eltern und seine Schwiegereltern verbrannt. Auch er hätte eigentlich unter den Opfern sein müssen. Er sei sofort nach Frankreich gereist und habe anhand der im Hotel hinterlassenen Koffer und Kleidungsreste die Identität seiner Verwandten bestätigen müssen. Mit Hilfe der deutschen Botschaft wurden die Überreste seiner Familie dann nach Deutschland überführt und schließlich auf einem Friedhof gemeinsam bestattet.
Beim Patienten wird eine »konversionsneurotische Hemiparese mit somatiformer Schmerzstörung auf dem Boden einer pathologischen Trauerreaktion bei multiplem realem Objektverlust« diagnostiziert und die Verlegung in die Psychiatrie empfohlen. In der Diagnose wird fachterminologisch ausgedrückt, dass der Patient durch den Tod seiner Angehörigen und dem damit verbundenen Verlust eine solche heftige emotionale Reaktion entwickelte, dass diese letztlich unerträglich wurde. Ein psychodynamisches Symptomverständnis erklärt sich die Symptome des Patienten mit der Verschiebung, eben Konversion, von emotionalen Inhalten in das körperliche Erleben. Der psychische Schmerz ist so groß, dass er zur Entlastung der Psyche in den Körper überschwappt und dort gebunden wird. Psychisch geht es den Menschen dann besser, sie weinen aber mit dem Körper. Die Folge dieses Entlastungsvorgangs sind nämlich die körperlichen Symptome wie Schmerzen oder eben Lähmungen. Zwei Tage später wird der Patient verlegt. Zu diesem Zeitpunkt erhält er bereits durch die Neurologen veranlasst eine Opiatperfusion als Dauerbehandlung gegen die Schmerzsymptomatik, mit gutem Erfolg. Blutdruck und Puls haben sich normalisiert, der Patient erscheint vegetativ stabilisiert. Herr Naseberg ist mit Hilfe einer Gehstütze bei immer noch bestehender Halbseitensymptomatik auch außerhalb des Bettes mobilisiert.
Das ganze Stationsteam nimmt Anteil an der furchtbaren Vorgeschichte des Patienten. Herr Naseberg selbst bleibt weiterhin emotional stumpf und affektlos. In den psychotherapeutischen Einzelgesprächen versucht der behandelnde Psychologe, sich dem Traumatisierungsgeschehen des Patienten anzunähern. Lange Zeit wehrt der Patient dies ab, erscheint nicht zu den vereinbarten Gesprächen, entzieht sich den Visiten, klagt über Zunahme der Schmerzen, die Halbseitensymptomatik akzentuiert sich wiederholt bis zur Bettlägerigkeit. Schließlich wird ein Hausbesuch in Begleitung eines Krankenpflegers vereinbart. Der Patient soll Erinnerungsfotos mit in die Klinik bringen und diese bei seinem Therapeuten deponieren. Man hofft, über die Bilder eine Annäherung an die verlorenen Familienmitglieder zu ermöglichen und dadurch einen normalisierten Trauerprozess
einzuleiten. Der Krankenpfleger berichtet von katastrophal unordentlichen Verhältnissen in der vom Patienten bewohnten Einzimmerwohnung. Herr Naseberg gibt an, er sei nach dem Flugzeugabsturz nicht mehr in der Lage gewesen, in dem vorher gemeinsam bewohnten Haus zu bleiben. Auch habe er seine Stelle gekündigt. Er, der zu Unrecht habe weiterleben dürfen, habe nichts anderes verdient, als in einer schäbigen Einzimmerwohnung zu hausen. Psychopharmakologische Behandlung lehnt Herr Naseberg durchgehend ab, alleine die weitergegebene Opiatmedikation wird von ihm toleriert. Bei Reduktionsversuchen reagiert er mit Verstärkung der
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