Die Logik des Verruecktseins
zwischen »Es« und dem Ergänzer bisher ultranah konkret, so ist es jetzt räumlich distanzierter, vielschichtiger und somit auch undurchsichtiger. Vom Ergänzer wird trotz dieser Distanz aber noch mehr persönliches Einlassen durch das ehemalige »Es« abgefordert. Das Kind greift nun viel aktiver in die Lebensumstände des Ergänzers ein, als es dies im uterinen Verhältnis vermochte. Das Kind liegt jetzt sichtbar da und kann seine Bedürfnisse unüberhörbar einfordern. 14 Aber auch der Ergänzer fordert das Kind mehr und fördert es im Rahmen der Möglichkeiten, die das Kind in seinem jeweiligen Entwicklungsabschnitt besitzt.
Der zweite Raum des Seelenlabyrinths
Die uterine Situation war das erste Miteinander in den Menschenverhältnissen und formte das Zentrum, den ersten Raum des Seelenlabyrinths. Der zweite Raum der Menschenverhältnisse ist jetzt betreten. Das Kind entwickelt hier die zweite Stufe des Binnenvolumens, das nun mehr Funktionen aufweist, stetig von der Welt lernt und stetig mehr verstehen muss, um darin zu überleben. Das Binnenvolumen des Kindes ist nun nicht mehr nur konzentriert auf das
belebte ultranahe »Uterusobjekt«, sondern auch auf die unbelebten Objekte, die sich in der Nähe befinden. Das Kind greift nach Objekten, die sich in unmittelbarer Reichweite befinden, betastet sie und führt sie zum Mund, der wie eine dritte Hand fungiert. Alles, was sich innerhalb eines Abstandes von etwa 30 Zentimetern befindet und sich bewegt, ist interessant. Vor allem ein Gesicht, das sich hier zeigt, wird angesehen und mit den Augen erkundet. Eltern wissen dies instinktiv und bringen ihr Gesicht deshalb dicht vor das des Kindes, wenn sie es ansprechen. Alles, was noch weiter weg ist, interessiert das neugeborene Leben nicht, mit Ausnahme akustisch wahrnehmbarer Signale. Lärm stört extrem und führt zu Angst und Weinen.
Wir können leider ein Kind nicht fragen, wie es auf dieser Entwicklungsstufe die Welt erlebt, und wir selbst haben keine abrufbaren Erinnerungen an diese Zeit. Vermutlich - und wie wir sehen werden, geben uns ganz bestimmte Psychopathologien hier Hinweise - wird die Welt durch den Säugling noch nicht scharf in einzelne Teile zerlegt. Wir sind in der Lage zu sagen: Das ist ein Tisch, das ist die Wand, der Hintergrund des Tisches, da steht ein Mensch usw. Dem Säugling erscheint die Welt vermutlich hingegen wie ein Ereignismeer, aus dem manchmal etwas auftaucht, sich merkwürdig hervorhebt und schließlich wieder darin eintaucht und verschwindet. Im Uterus hatte der Ergänzer für den Fötus noch keinerlei Personalität, im zweiten Raum steigen hingegen erstmalig Personalitätsblasen auf, die allerdings immer wieder zerplatzen. Der zweite Raum ist nur rudimentär mit einem anderen Menschen besetzt, der Ergänzer ist weiterhin mehr Raumbegrenzer als Teilnehmer eines geteilten Raums. Psychopathologien, die das Verhältnis des zweiten Raums zitieren, haben deshalb auch keine konkreten Personen zum Inhalt, allenfalls »Personenchiffren«. Vielmehr spielen hauptsächlich unbelebte Objekte eine Rolle und die Frage nach der Grenze zwischen mir und einem anderen, wie sie im zweiten Raum natürlicherweise noch nicht deutlich beantwortet werden kann. Entsprechend sind Psychopathologien des zweiten Raumverhältnisses, wie wir später noch genauer sehen werden, Erkrankungen, bei denen die ansonsten scharfe Grenze zwischen mir und den anderen durchlässig wird und schließlich fällt.
Die Erweiterung des Raumhorizonts
Das Kind ist der Welt schutzlos ausgeliefert und könnte in ihr nicht überleben, stünde nicht schützend und bergend der Ergänzer zwischen ihm und der Welt. Er formt mit seiner Anwesenheit den zweiten Raum. Und er ernährt das Kind. Die sich im zweiten Raum des Seelenlabyrinths einstellende Distanz zwischen den Beteiligten wird immer wieder unterbrochen von ultranahen, beruhigenden Situationen, in denen, ähnlich wie im Uterus, konkret biologisch ergänzt wird. Das Stillen ist, neben der Funktion der Nahrungsaufnahme, ein Näheritual, in dem sich der Säugling von seiner Exploration im zweiten Raum, also der Erkundung im Fremden, ausruht und erholt. Aber kann der Säugling unterscheiden, ob diese Brust, die ihn stillt, zu ihm »gehört« oder zur Welt? Dies kann er vermutlich noch nicht und dies muss er auch noch nicht können.
Jedoch: Die Erweiterung des Raumhorizontes durch den Umzug in den zweiten Raum ist ein Entwicklungsschritt, der neue Gefahren bereithält. Das
Weitere Kostenlose Bücher