Die Logik des Verruecktseins
psychische Ursache.
Ist die Gefahr im Außen real und wirklich existenziell bedrohlich, z.B. bei Kriegserlebnissen oder Naturkatastrophen, kann ebenfalls kurzfristig angstbedingt auf ein sehr kleines Binnenvolumen heruntergeschaltet werden, und es entsteht das Phänomen des psychogenen Stupors: ein Krankheitsbild, das heute zu den dissoziativen Zuständen gezählt wird. Phänomenologisch, also nach außen für den Betrachter, erscheint der psychogene Stupor genau wie der schizophrene oder der gerade beschriebene körperlich begründbare. Die Patienten schildern nach Besserung aber einen geringeren Zerfall der Außenrealität. Menschen werden wahrgenommen, der Raum besitzt nicht die gleiche Vernichtungsqualität wie beim schizophrenen Stupor, die Fähigkeit, etwas im Raum zu bewirken oder aus dem Raum etwas anzunehmen, ist jedoch ähnlich beeinträchtigt. Die Prognose dieser Schreckerlebnisreaktion ist viel günstiger, da nach Abklingen der Angst machenden Situation die Binnenstruktur auch wieder rascher aufgebaut werden kann und schneller eine Entängstigung gelingt, da es ja einen guten Grund für die Vernichtungsangst gab, die mit dem Verschwinden der Situation auch wieder rückläufig sein kann.
Schließlich kann sich, und das wurde dann bei Herrn Naseberg vermutet, mit einer zeitlichen Latenz zu einem einschneidenden Lebensereignis eine sogenannte dissoziative Bewegungsstörung entwickeln,
die jede eigentlich bewusst durchführbare motorische Funktion schachmatt setzt und verhindert. Es kann zu Teil- oder Ganzkörperlähmungen kommen und selbst das Sprechen, das ja auch von Muskelbewegungen abhängig ist, kann unmöglich werden. Die Patienten schweigen, der Fachausdruck lautet Mutismus. Ein alter Begriff für diese Verkörperlichung psychischer Spannung und psychischen Leidens war der der Konversionsneurose oder Konversionshysterie. Dieser findet aber heute aufgrund der damit verbundenen Theorieassoziation mit der Psychoanalyse keine Anwendung mehr in den atheoretischen Diagnosemanualen, die nur die Symptome beschreiben und sich nicht an eine Ursachentheorie anlehnen wollen.
Entscheidend ist Folgendes: Wir sehen als Ärzte im klinischen Alltag ständig psychopathologische Phänomene, auf deren nosologischen, das heißt krankheitsursächlichen Grund, wir allein angesichts ihres Erscheinungsbildes nicht automatisch und fehlerfrei schließen können. Ein Auto kann aus unterschiedlichsten Gründen nicht anspringen. Vielleicht ist gar kein Benzin im Tank, vielleicht ist der Anlasser defekt oder vielleicht zünden die Zündkerzen nicht. Das Ergebnis ist immer das gleiche, der Wagen springt nicht an. An der Tatsache des Nichtanspringens ist die Ursache selbst jedoch nicht ablesbar. Zur Klärung der Ursache müssen »Untersuchungen« erfolgen. Die Tankanzeige muss überprüft werden, die Zündkerzen gereinigt oder der Anlasser kontrolliert werden. Dass wir in der Medizin ähnlich vorgehen und dabei Ursachenalternativen für vergleichbare Binnenvolumen und Sein-Raum-Verhältnisse suchen, ist uns nicht mit aller Deutlichkeit klar. Dies liegt vor allem an der Theorieentwicklung der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten, die sich zunehmend von ideologiform gefärbten Theoriekonstrukten, zu denen man auch die Psychoanalyse zählen kann, entfernt und in Richtung Operationalisierung entwickelt hat. Operationalisierung bedeutet, Symptomchecklisten zu erstellen, an die sich dann auch alle Diagnostiker halten. Der Vorteil ist, dass verschiedene Untersucher auch beim selben Patienten dieselbe Diagnose stellen und nicht verleitet werden, dem Patienten ihr Theoriekonzept überzustülpen. Ein großer Vorteil, allerdings gleichzeitig eine »Entseelung« der Psychiatrie, da die definierten
Symptome und Krankheiten sich zu voneinander unabhängigen »Realitäten« wandeln und für echt gehalten werden. Die Möglichkeit, die wir auch hier versuchen, anhand vergleichbarer psychopathologischer Zustände auf den seelischen Strukturaufbau rückzuschließen, geht durch Operationalisierung verloren.
Gefahrenabwehr: Wenn der Organismus mit dem Moment verschmilzt
Der Psychiater Karl Bonhoeffer veröffentlichte schon 1917 sein Modell der exogenen Reaktionstypen. 13 Darin beschreibt er die diversen Funktionsstörungen des Gehirns bei exogenen (wie auch symptomatischen und primären) Hirnerkrankungen als unspezifische Prägnanztypen. Exogen bedeutet eine stoffliche Schädigungsursache, die ursprünglich außerhalb des Körpers lag. Eine
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