Die Logik des Verruecktseins
rechtzeitige Erkennen dieser Gefahren und die entsprechenden Gefahrenabwehrversuche sind, ebenso wie wir es schon für die Gefahrenabwehr im Uterus sehen konnten, im Binnenvolumen des Säuglings evolutionär begründet hinterlegt.
Die Hauptangst gilt dabei dem Ergänzer, da von ihm die Hauptgefahr ausgeht. Ebenso wie der Uterus schützende Bergungshülle und unbarmherziges Gefängnis zugleich sein kann, besitzt der Ergänzer im zweiten Raum ein gefährliches Doppelgesicht: Anfänglich beginnen nämlich entweder nur zwei Schritte von ihm entfernt für den Säugling unerträgliche Einsamkeiten oder, wird die Explorationsfreudigkeit des Säuglings durch den Ergänzer stetig verhindert, in dessen ununterbrochener Nähe unerträgliche Wachstumsverhinderungen.
Gefahren der zweiten Beziehungssituation
Was genau vollzieht sich zwischen dem Ergänzer und dem Kind?
In diesem Kapitel wird es weniger darum gehen, klare Antworten auf diese Frage zu finden. Vielmehr wollen wir die Atmosphäre und Gefahrenmomente des Mit- und Ineinanderverwobenseins der zweiten Beziehungssituation genauer betrachten und auf uns wirken lassen. Die Empfindlichkeiten dieses zwischenmenschlichen Brisanzfeldes verinnerlicht zu haben, wird uns helfen, das spezifisch Menschliche unserer Primatenart besser zu verstehen - in seinen Leistungen wie in seinen Leistungseinschränkungen.
Was vollzieht sich also zwischen dem Ergänzer und dem Kind?
Hier sind zwei Perspektiven möglich: die des Ergänzers wie die des Kindes, welche wir nacheinander einnehmen wollen. Zur Verdeutlichung dieser Perspektiven bedienen wir uns zweier Bezugsquellen, die jeder von uns in sich trägt und deren robuste Existenz im Kollektivgedächtnis einer Gesellschaft als ein Hinweis für ihre Deutungskraft gelten kann. Wir werden ein bekanntes Märchen untersuchen, um die Position des Ergänzers zu verstehen. Danach erfolgt die Betrachtung eines berühmten Werkes der Literaturgeschichte, welches aufgrund seiner Transformation von einer Erwachsenenlektüre hin zum Kinderbuch die These zulässt, dass diese Verwandlung dann stattfindet, wenn Generationen von Kindern einen Lesestoff vorfinden, der ihnen eine nützliche implizite Wahrheit mitteilt, die zwischen dem Erzählstoff geheimnisvoll hindurchschimmert.
Die Perspektive der Ergänzer: »Hänsel und Gretel«
1814 erschien die Sammlung Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Eines der zentralen Märchen ist »Hänsel und Gretel«. Trotz der Bekanntheit sei es hier kurz nacherzählt:
Hänsel und Gretel sind die Kinder eines armen Holzfällers, der mit seiner Frau im Wald lebt. 15 Als die ökonomische Not zu groß wird, überredet die Frau ihren Mann, die beiden Kinder nach der Arbeit im
Wald zurückzulassen. Der Holzfäller führt die beiden am nächsten Tag in den Wald. Doch Hänsel hat die Eltern belauscht und legt eine Spur aus kleinen weißen Steinen, anhand derer die Kinder zurückfinden. So kommt es, dass der Plan der Mutter scheitert. Doch der zweite Versuch gelingt: Dieses Mal haben Hänsel und Gretel nur eine Scheibe Brot dabei, die Hänsel zerbröckelt, um eine Spur zu legen. Diese wird jedoch von Vögeln gefressen. Die Kinder finden nicht mehr nach Hause und verirren sich. Am dritten Tag entdecken die beiden ein Häuschen, das ganz aus Brot, Kuchen und Zucker hergestellt ist. Zunächst brechen sie Teile des Hauses ab, um ihren Hunger zu stillen. In diesem Haus lebt jedoch eine Hexe, die eine Menschenfresserin ist. Die Hexe lockt die beiden in ihr Haus, macht Gretel zu ihrer Dienstmagd und mästet Hänsel in einem Käfig, um ihn später zu verspeisen. Um zu überprüfen, ob der Junge dazu schon dick genug ist, befühlt die halbblinde Hexe jeden Tag seinen Finger. Hänsel wendet jedoch eine List an. Anstatt seines Fingers streckt er ihr an jedem Tag einen kleinen Knochen entgegen, den die Hexe unzufrieden betastet. Als sie erkennt, dass der Junge nicht fett zu werden scheint, verliert sie die Geduld und will ihn dann doch im Ofen braten. Die Hexe verlangt von Gretel, in den Ofen zu sehen, ob dieser schon heiß sei. Aber Gretel behauptet, dass sie zu klein wäre, um tief genug in den Ofen blicken zu können. Deshalb muss die Hexe selbst nachsehen. Als sie den Ofen öffnet, stößt Gretel die böse Hexe in den Ofen, in dem diese verbrennt. Die Kinder nehmen Schätze aus dem Hexenhaus mit und finden den Weg zurück zum Vater. Die Mutter ist inzwischen gestorben. Nun leben sie glücklich und leiden keine Not
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