Die Logik des Verruecktseins
rasch erschöpft sind, stoßen Kinder von sich weg, fordern sie in der Folge zu früh und geben ihnen nicht genug Sicherheitsabstand zu im Innen und Außen liegenden »Waldgefahren«. Diesen können sich die Kinder aber noch nicht alleine stellen und sie werden von den Umständen überfordert. Sie benötigen die Eltern noch als Ereignispuffer,
Entängstigungsagens und emotionalen Simultanübersetzer. Anstatt diesen Funktionen nachzukommen, halten die erschöpften und überforderten Eltern einen für sie selbst notwendigen Sicherheitsabstand genau zu denen ein, die auf das Fehlen dieses Abstandes angewiesen sind.
Fatale Vereinnahmung: Die Hexe
Ähnlich und doch ganz anders die Ergänzertätigkeit der Hexe. Auch sie ist hungrig wie die Mutter. Allerdings »anorektiert« sie sich nicht in der Begegnung zum Kind, sondern »bulimiert« das Kind als Seelennahrung. Verstehen wir also Mutter und Hexe als die beiden Aspekte einer Ergänzerin, die selbst nicht ausreichend genährt wurde, so können wir sagen: Entfernt sich das Kind zu weit, gewinnt es also zu viel Selbständigkeit, ist die Mutter, die selbst keine ausreichende Trennungs- und Distanzaushaltungskompetenz besitzt, in ihrem eigenen seelischen Überleben bedroht. Deshalb sperrt sie das Kind in einen Bekümmerungs- und Abhängigkeitskäfig, aus dem dieses nicht entkommen kann. Wachstum, im Märchen konkretisiert durch Gewichtszunahme, wird von dem Kind notgedrungen verheimlicht. Es wächst nicht nach außen, angespornt durch die Freude der Mutter, sondern allenfalls still nach innen, abgetrennt von der notwendigen und liebevollen Rückkopplung mit dem Ergänzer. Größen- und Kleinheitsfantasien, die in der kindlichen Entwicklung bedeutsam sind und ganz natürlich auftreten, werden bei ungestörter Erziehung hilfreich durch Kommunikation mit dem Außen abgemildert. Das Kind lernt durch die Kommunikation sich selbst einzuschätzen, angemessen stolz zu sein und Frustrationen auszuhalten. Fehlt diese Rückkopplung mit dem Ergänzer, verharrt das Selbstwertgefühl in seinem Wachstum auf einer rudimentären und wackligen Ebene. Werden diese Kinder erwachsen, ringen sie in einer Permanentanstrengung lebenslänglich mit ihrem Selbstwertgefühl und den sozialen Situationen, die das Selbstwertgefühl in Spannung bringen.
Auch die Hexe hält einen, wenn auch anderen Sicherheitsabstand zu dem Kind ein, an dessen Entwicklung sie nicht wirklich interessiert oder beteiligt ist und sein darf, sonst könnte sie das Kind im Verlauf
loslassen und damit an die Welt verlieren. Das Kind wird nicht darauf vorbereitet, irgendwann seinen Ergänzer zu verlassen, vielmehr soll es vernichtet werden, bevor es selbständig (ausreichend mit Fettreserven ausgestattet, um sich in der weiten Welt aus dem eigenen Depot versorgen zu können) aus dem Hexenhaus ausziehen könnte. Die Hexe benötigt zu sehr das Kind selbst als eine Prothese zum Ausgleich des eigenen Mangels, es kommt zur fatalen Ergänzerumkehrsituation, in der das Kind für die Mutter da ist und nicht die Mutter für das Kind. Junge Erwachsene, die diese Situation z.B. wegen einer Suchterkrankung der Mutter kennenlernen mussten, wirken sonderbar ernst und erwachsen aufgrund der frühen, überlebensnotwendigen Notreifung, die auf Kosten ihrer Genussfähigkeit und einer spielerischen Unernsthaftigkeit gegenüber dem Leben ging.
Hänsels psychische Entwicklung entfaltet sich also an den Extremalternativen einer mütterlichen »Zuwendung« mit den Polen des Erfrierens im Einsamkeitswald und dem Verbrennen im symbiotischen Ofenfeuer. Sowohl die Hexe wie die böse Mutter müssen sterben, damit die Kinder glücklich leben können. Das Märchen unterstreicht am Ende die Rolle des Vaters, der als weiterer Ergänzer eine wichtige Funktion in der Beziehungsregulation zwischen Mutter und Kind spielen kann.
Die Perspektive des Kindes: »Robinson Crusoe«
Wenden wir uns nun der ersten interpersonellen Begegnungssituation aus der Sicht des Kindes zu. Auch hier wollen wir eine allgemein bekannte Geschichte als Metapher dieser Perspektive benutzen.
1719 erschien der erste Roman der englischen Literaturgeschichte. Daniel Defoe schildert darin die Abenteuer des schiffbrüchigen Robinson. Der Titel der Originalausgabe übersetzt, liest sich wie eine kurze Inhaltsangabe: »Das Leben und die seltsamen, überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der 28 Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in
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