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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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    In den hier für uns wichtigen Zusammenhängen sind nicht Hänsel und Gretel die Hauptfiguren der Geschichte, sondern die Ergänzer, insbesondere die Mutterfiguren. Die Mutter und die böse Hexe sind zwei Extreme einer missglückten Ergänzerfunktion . 16 Aufgrund ihrer eigenen Not, entstanden durch mangelnden innerlichen Reichtum, sieht sich die Mutter nicht in der Lage, den Kindern ausreichende Ergänzerfunktion zur Verfügung zu stellen. Bleiben die Kinder im Haus und sie in der Versorgungspflicht, sieht sie sich im Kern ihrer
Person von den Kindern tödlich bedroht, im Märchen durch den Hungertod konkretisiert. Sie kann deshalb den Kindern nicht die für deren seelische Entwicklung und körperliches Überleben notwendige Prothesenfunktion zukommen lassen. Stattdessen setzt sie die Kinder einer Autonomieforderung und Pseudofreiheit aus, der diese gar nicht gewachsen sind. Passenderweise ist es der Vater, der gewöhnlich in der Erziehung eher drängend die Autonomie fördert und fordert, der die Kinder in den Wald führt und dort aussetzt. Dort haben die Kinder alle Freiheiten, niemand sagt ihnen, was sie tun oder lassen sollen, gleichzeitig genießen sie aber auch keinen Schutz mehr vor den Gefahren des Waldes. Auf sich allein gestellt, sind sie von der Freiheit der Selbstbestimmung überfordert.
Überforderung durch zu frühe Selbständigkeit: Die »böse« Mutter
    Ergänzer, die sich von ihren Kindern nicht ausreichend bereichert fühlen, erleben eher den Beraubungsaspekt, den die Ergänzertätigkeit auch mit sich bringt. Dieser Gesichtspunkt wird von den einschlägigen Erziehungsratgebern meist vollkommen übersehen. Familien sind nicht in erster Linie Zweiheiten, die aus Erziehern und zu Erziehenden bestehen. In erster Linie sind Familien Einheiten, die sich aus Menschen zusammensetzen, die miteinander leben dürfen und müssen. Jenseits von permanenten Erziehungsaufgaben der Eltern muss das Miteinanderleben und seine Abläufe verhandelt und realisiert werden. Ergänzer, die selbst in ihrer Kindheit ausreichend ergänzt worden sind, können den Kraftaufwand aufbringen und sind flexibel genug, sich von ihren Kindern permanent in und von ihren eigenen Bedürfnissen beschneiden und berauben zu lassen. Dieses Verhältnis ist jedoch auch von Seiten der Ergänzer nicht durchgehend frei von sogenannten »negativen« Emotionen wie Ärger, Wut und manchmal auch Hass.
    Emotionen dieser Art zulassen können und sich von ihnen nicht bedroht fühlen, ist von selbst erlebten Ergänzererfahrungen abhängig.
Immer wieder sieht man als Psychiater Mütter, die Angst davor haben, ihren Kindern etwas antun zu können. Angst vor Impulskontrollverlust tritt dann beispielsweise bei Ansicht eines Haushaltsmessers auf und die Befürchtung, plötzlich »willenlos« nach dem Messer greifen zu müssen und zustechen zu können. Dass Wutemotionen ganz normal sind und im seelischen Haushalt integriert werden können, haben diese Mütter offensichtlich in ihrer eigenen Kindheit aus unterschiedlichen Gründen nicht kennenlernen dürfen.
    Fokussiert ausgedrückt: Kinder sind auch immer wieder unendlich nervtötende Mitbewohner, die aber »leider« einen Dauermietvertrag besitzen. In der Realität der gesellschaftlichen Jetztsituation kommt es immer häufiger zu Kündigung des Mietverhältnisses durch einen Ergänzer aufgrund wiederentdeckten Eigenbedarfs. Patchworkbiografien mit Umzügen in wechselnde WGs des Lebens werden Normalität. Die von Psychiatern bezogen auf diese gesellschaftliche Realität weiterhin ganz naiv vorgebrachte Frage: »Wie war das Verhältnis zu Ihrem Vater?«, wird zunehmend mit Gegenfragen beantwortet: »Welchen meinen Sie? Den biologischen Vater, den ich nicht kannte? Den ersten Vater, der bei uns von meinem dritten bis neunten Lebensjahr lebte und mit dem meine Mutter ein weiteres Kind hatte? Oder meinen Sie den zweiten Vater, vom elften bis siebzehnten Lebensjahr, zu dem ich keinen Kontakt mehr habe?«
    Was dies für die später unter Umständen zu erbringende Ergänzerkompetenz und ihre Anwendung an den Kindern für die gesellschaftliche Entwicklung bedeutet, wird sich bald zeigen. Erste Ahnungen geben die notwendig werdenden Ganztagsbetreuungsangebote in Kindergärten und Schulen. Die primäre Ergänzerfunktion selbst muss vermutlich zukünftig immer stärker durch staatlich institutionalisierte Ergänzerergänzerfunktionen ergänzt werden.
    Mütter oder Väter, deren Halte- und Ertragungskapazitäten

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