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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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»Superalarmanlage«
    Es wird angenommen, dass die ersten Primaten sich aufgrund eines bestimmten Umgebungsdrucks vor ca. 45 Millionen Jahren in ihrem Verhalten veränderten, ihre einzelgängerische Lebensweise aufgaben und begannen, sich in Gruppen zusammenzuschließen. Versetzen Sie sich in die Lage eines einzelgängerisch lebenden Zwergtupaja. Sie sind aufgrund Ihrer Instinktveranlagung nicht in der Lage, Geschlechtsgenossen in Ihrer Nähe zu ertragen. Sehen Sie als Männchen ein anderes Männchen, sind Sie nicht mehr zu halten und stürzen sich auf den Konkurrenten, um diesem klarzumachen, wer dieses Revier besitzt und sich darin breitmachen darf. Gewinnen Sie die Auseinandersetzung, dürfen Sie bleiben und das Revier mit seinem Nahrungsangebot und den sich hierher verirrenden Weibchen ausnutzen. Verlieren Sie, signalisieren Sie durch Unterwerfungsgeste dem Rivalen die Anerkennung seines Sieges und räumen in geduckter Körperhaltung, sich selbst klein und unscheinbar machend, das Feld. Lange dürfen Sie sich aber nicht schlecht und als Verlierer fühlen, da Sie an der nächsten Waldecke vielleicht wieder auf ein ebenfalls sein Revier verteidigendes Männchen treffen und sich wieder selbstbewusst behaupten müssen. Irgendwann finden Sie wohl ein Revier und lassen sich nieder, dieses nun auch wachsamst verteidigend gegen andere Männchen. Dies sind Ihre einzigen Unannehmlichkeiten. Ein Revier oder als Weibchen ein Männchen finden, Nahrung ist im Überfluss vorhanden, und so ging es über Millionen Jahre im Evolutionszug relativ unbeschwert weiter, ohne dass großartige Veränderungen nötig geworden wären.
    Im Hintergrund aber entwickelte sich eine allmählich anwachsende Gefahr. Bald sind die friedlichen Zeiten vorüber. Man wird auf Sie und Ihre Art aufmerksam. Andere Tiere bemerken Ihre Existenz, bemerken vor allem eins: Ihren Nährwert. Dabei sind Sie und Ihre Art relativ wehrlos. Sie haben keine Klauen, um einen Angreifer abzuwehren und in die Flucht zu schlagen. Sie haben keine Reißzähne, mit denen Sie drohen können. Beides haben die sich allmählich entwickelnden Raubtiere: Klauen und Reißzähne, im Überfluss.

    Diese haben sich extra entwickelt, um auf Sie Jagd zu machen. Dazu benötigten sie selbst viele Millionen Jahre der Evolution. Die Dinosaurier, von denen einige jagdaktiv waren, waren ja ausgestorben und konnten den frühesten Primaten nicht mehr gefährlich werden. Sie selbst sind aber nun klein und schmächtig und somit ein ideales Opfer. Die Angreifer lauern überall auf Sie als Nahrungsquelle. Von wo kommen sie? Man bräuchte fünf Augenpaare, um in jede potentielle Angriffsrichtung gleichzeitig blicken zu können. Man bräuchte fünf Ohrenpaare, um die gesamte Umgebung auf gefährliche Angriffshinweiszeichen abhören zu können. Und man bräuchte fünf Nasen, um in jede Richtung die Witterung auf olfaktorisch bemerkbare Raubtierhinweiszeichen zu erschnüffeln.
    Sie als früher Primaten-Zwergtupaja, was würden Sie tun? Evolutionär gesehen reicht die verbliebene Zeit für Sie und Ihre Art nicht aus, sich weitere Augen- und Ohrenpaare wachsen zu lassen. Was wäre eine vernünftige Antwort auf diese Bedrohung? Ihnen bliebe nichts anderes übrig, als sich mit Ihren bis dahin schlimmsten Konkurrenten zu verbinden: Ihren Artgenossen. Ein gemeinsamer Feind schafft in der evolutionären Entwicklung Allianzen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und vier Ohren hören einen herannahenden Feind frühzeitiger als zwei Ohren. Zehn Augenpaare sehen noch besser und zehn Ohrenpaare lauschen noch schärfer. Ganz gleich, wem diese Ohren und diese Augen gehören, die Reaktion auf einen erfolgten Raubtierangriff des anderen Ohren- und Augenträgers können auch Sie erleben, und seine Angstreaktion wird Ihr Frühwarnsystem vor Gefahr, und seine Rettung aus der Gefahr durch Flucht ist auch Ihre Rettungsmöglichkeit. Paradoxerweise sind Sie sicherer in einer Gemeinschaft von potentiellen Opfern, wie Sie selbst eines sind, indem Sie die Sinne der anderen für Ihre Zwecke des Überlebens nutzen lernen. Die erste Sozialität erbrachte ein In-Reihe-Schalten von einzelnen Alarmeinheiten zu einer Superalarmanlage, die für gewöhnlich »Gruppe« genannt wird.
    Auch andere, neue und unerwartete Vorteile stellen sich mit der Gruppenbildung ein. Das Revier der ersten gruppenbildenden Primaten war im Vergleich zu dem der alleine lebenden Zwergtupajas
deutlich größer. Dieses große Revier konnte und musste besser gegen

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