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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Preiter
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andere, die gleiche Nahrung bevorzugende Konkurrenten verteidigt werden. Konkurrenten konnten dabei entweder Tiere der gleichen Art, jedoch einer anderen Gruppe, oder andere Tiere sein, die dieselbe Nahrung bevorzugen. Sich alleine zu behaupten in einer zunehmend bedrohlichen Welt ist weitaus schwieriger, als sich in einer sich gemeinsam stark erlebenden Gruppe zu befinden. Auch wächst in einer Gruppe die Chance, von den Fähigkeiten anderer im Nahrungserwerb zu profitieren. Sie alleine finden vielleicht gar nicht jede Nahrungsquelle in Ihrem gemeinsamen Revier, andere sind da möglicherweise erfolgreicher, und Sie können deren Fähigkeit ausnutzen, da für Sie ein unerwarteter Bissen abfallen kann. Trifft Ihre Gruppe dann tatsächlich einmal auf ein Raubtier, haben Sie außerdem eine größere Aussicht, nicht selbst Opfer zu werden, sondern statt Ihrer kann es ebenso gut eines der anderen Gruppenmitglieder sein. So »traurig« das dann ist, ist das Ergebnis doch besser als das zu erwartende, wenn Sie als Einsiedler allein auf weiter Flur plötzlich einem Raubtier in seine gierigen Augen blicken.

Leben im Sozialverband: »Einander Agar-Agar sein!«
    Natürlich haben unsere Vorfahren den Schritt zur Gruppenbildung nicht durch Nachdenken und vernünftiges Abwägen vollzogen. Sie haben stattdessen nichts anderes getan, als Sexualpartner gesucht und Junge bekommen. Nach den bereits kennengelernten darwinschen Gesetzen der Evolution haben sich die Nachkommen geringfügig untereinander und von ihren Eltern unterschieden. Einige hatten dabei zufällig eine geringere Anlage zur Ungeselligkeit gegenüber ihren Artgenossen als andere. Sie waren deshalb in der Lage, Gruppen zu bilden, und genossen zufällig die beschriebenen Vorteile des sozialen Miteinanders. Es kamen neue Junge und neue Generationen und ganz langsam über viele Generationen hinweg vollzog sich aufgrund des weiter zunehmenden Raubdruckes durch jagende Feinde die beschriebene Veränderung hin zu einem immer differenzierteren
Gruppenleben: ein bei den Primatenprototypen beginnender Entwicklungsprozess, an dessen Ende wir stehen. Diese Veränderung, eine Evolution hin zur geselligen Lebensweise, ist, mit Sicht auf die Individuen der Evolutionskette, zufällig, im gesamten evolutionären Verlauf aber »quasivernünftig«.
    Primatengehirnen gelang es, bei diesen erzwungenen Startbedingungen aus der Not eine Tugend zu machen. Sie lösten sich in den nächsten Millionen Jahren allmählich von den natürlichen Umgebungsbedingungen und wurden unabhängig von ihnen, da sie sich einander zur Umgebungsbedingung wurden. Es entwickelte sich hieraus eine evolutionäre Erfolgsgeschichte, die in Afrika begann und schließlich zu einer Besiedlung sämtlicher Kontinente führte. Menschen können heute sogar ihre eigenen Lebensbedingungen simulieren, die Erde verlassen und als Astronauten ihre eigene Biosphäre mit sich herumtragen. Hätte die Evolution für diese Erfolgsgeschichte einen Slogan benötigt, so hätte er lauten können: »Einander Agar-Agar sein!« 46
Wir gehören nicht uns selbst allein
    Wenn Sie den evolutionären Ablauf der Sozialverbandbildung ganz verinnerlicht haben, drängt sich ein unausweichlicher Gedanke auf, der quer zu unserem seit der Aufklärung kulturell propagierten Individualfetischismus verläuft. Nämlich der Gedanke, dass Ihr Gehirn nicht nur Ihnen allein gehört, sondern auch denen, mit denen Sie zu tun haben.
    Auch wenn wir uns selbst evolutionär begründet immer kernbewusster wurden und zunehmend den Eindruck gewonnen haben, uns ausschließlich selbst zu besitzen, so sind die damaligen Startbedingungen der Sozialität doch noch immer in uns wirksam. In einer Gruppe gehört jeder jedem, weil jeder auf jeden zur Gefahrenminimierung auf den anderen angewiesen ist. Als Kulturwesen möchten wir daran glauben, eine postevolutionäre Novität zu sein und selbstbestimmt und autonom zu handeln. In Wirklichkeit aber ist unsere anthropologische Matrix
aus den gleichen biologisch evolutionären Grundbausteinen der Sozialität geformt, wie sie bereits bei den frühen Primaten anzutreffen war. Wir sind weiterhin Individuen, die bereit sind, in Serie geschaltet zu werden. In der Familie, unter Freunden, am Arbeitsplatz, als Einwohner eines Staates mit gleicher Sprache und einer Nationalhymne, tauchen wir in wechselnde Serienschaltungen mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern ein. 47 Selbst Menschen, die sich nicht kennen, können plötzlich unter

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