Die Logik des Verruecktseins
Eifersuchtsfrühalarmierungssystem nur für einige Tage ausschalten könnte.
Wenn Sie alle Ihre erwachsenen partnerschaftlichen Beziehungen der Vergangenheit betrachten, wenn Sie dann ganz tief in Ihr Herz blicken, noch tiefer und in ganz verwinkelte dunkle Bereiche, in denen unsere weniger schönen Geheimnisse versteckt und verschlossen werden: Wäre es dann irgendwann in einem Ihrer früheren Beziehungsleben für Sie denkbar gewesen, Otellex ® unretardiert zu kaufen und es Ihrem Partner einmal heimlich zu verabreichen? Es schadet ihm ja gesundheitlich nicht, es schützt Sie aber für einige Tage vor unangenehmen Fragen, vor Rechtfertigungsdruck und ermöglicht Ihnen etwas mehr Beziehungsfreiheiten, die Sie vielleicht so schlecht gar nicht finden. Wenn Sie ganz ehrlich zu sich sind …?
Ausscheren aus dem Sozialverband
Wahrscheinlich sind Sie und ich die rühmlichen Ausnahmen, die so etwas nicht tun könnten und nicht einmal mit dem Gedanken spielen würden, so etwas zu tun. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Otellex ® unretardiert sich tatsächlich gut verkaufen ließe. Keiner würde es selbst nehmen, aber vielleicht einem anderen geben? Auf jeden Fall fände sich wohl in den meisten Menschen eine deutliche Diskrepanz zwischen den Ausprägungsgraden der eigenen Einnahmephobie und der mögliche Vergabeakzeptanz an andere, selbst (oder gerade?) an den eigenen Partner.
Damit soll nicht gesagt werden, wie unehrlich, verschlagen und heimtückisch Menschen mit anderen umgehen, sondern etwas anderes. Das Otellex ® -Unretardiert-Beispiel soll zeigen, dass Menschen durchaus bereit sind, in bestimmten Situationen andere zu täuschen, oder, etwas moralisch wertfreier ausgedrückt, bereit sind, andere über ihre Motive und Absichten vorläufig im Unklaren zu lassen. Zunächst in einem inneren Bereich Dinge mit sich zu verhandeln und nicht unbedingt sofort mit anderen, obwohl sie uns sehr nahestehen. Auf der Primatenstufe hieße das z.B., Nahrung zu finden, dies für sich zu behalten, mit den anderen genau in einer anderen Richtung ablenkend »weiterzusuchen«, um dann später alleine zum Nahrungsdepot zurückzukehren, was bei Bonobos tatsächlich beobachtet wurde. 49 Es soll mit diesem Beispiel nicht ausgedrückt werden, dass es immer um die Optimierung eines persönlichen Vorteils gehen soll, obwohl es wohl häufig darauf hinausläuft, sondern darum, dass eine in Serie geschaltete Alarmanlageneinheit »Gruppe« aus Untersegmenten namens Individuum besteht, die sich auch aus dem Verbund herausnehmen können. Manchmal dies deutlich signalisierend, manchmal heimlich, ohne dass die anderen dies überhaupt bemerken und somit im Glauben gelassen werden, dass der Ausscherer weiterhin kooperiert.
Menschliche Maskierungsfähigkeiten
Muss das so sein? Warum sind wir nicht immer ganz offen und ehrlich mit anderen? Warum diese Fähigkeit zur Geheimniskrämerei? Warum die Fähigkeit, eine Maske im sozialen Miteinander zu tragen, die uns schützt vor den neugierigen Blicken der anderen? Wir werden versuchen, hierauf Antworten zu finden. Warum? Weil Psychopathologie immer den Verlust von Maskierungsfähigkeit im sozialen Miteinander bedeutet. Dies geschieht in unterschiedlichen Ausprägungen, von der Steigerung des Anstrengungspotentials, die Maske weiter hochzuhalten, wie bei dem semicargomedizinischen Konstrukt des »Burn-out« als Frühsymptom zu beobachten ist 50 , bis zum Maskenverlust, wo es keine Fähigkeit zur Maskierung mehr gibt und Stimmung sowie Absicht unmittelbar sichtbar werden. Ein depressiver Mensch z.B. muss nicht mehr sagen, wie er sich fühlt, man sieht es ihm an. Schon wenn »Gesunde« emotional in Wallung kommen, verärgert sind oder enttäuscht oder traurig, lockert sich bei fast allen Menschen die Maskierungsfähigkeit und die eigentliche Befindlichkeit blitzt zumindest für Momente auf.
Wenn wir diesen Übergang von Normalfunktion der Maskenlockerung über erhöhtes Anstrengungspotential bis hin zum Maskenverlust in psychopathologischen Zusammenhängen verstehen, dann verstehen wir die Kehrseitenfunktion der sozialen Medaille, die notwendige Zweiseitigkeit der Medaille, die Funktion des Bewusstseins und von Emotionen im evolutionären Kontext und die Funktion bestimmter protohumanspezifischer Alarmierungsreaktionen, die eng mit unseren heutigen psychopathologischen Phänomenen verknüpft sind. Wir werden nicht alle diese Problemfelder auf den wenigen Seiten dieses Kapitels klären können, wir werden
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