Die Logik des Verruecktseins
Lebens Sprache nicht mehr ausreicht, ersetzt gegenseitiges Ineinanderlegen der Hände die Sprachlosigkeit und sagt mehr als tausend Worte. Wir sind eigentlich alle Handfetischisten, was aber aufgrund der Allgemeingültigkeit des Phänomens niemandem auffällt.
Unter Explorationszwang
Die Greiffähigkeit der Hand nach der Außenwelt teilt diese zumindest in zwei Räume ein. Der Raum um mich herum, den ich mit den Händen erreichen kann, und der Raum dahinter, der außerhalb der Reichweite meiner Hände liegt. Je näher belebte oder unbelebte
Objekte der Reichweite meiner Hände kommen, desto heikler und potentiell gefährlicher ist mein Verhältnis zu ihnen. Sind sie zum Anfassen nah, entsteht ein haptischer Erkundungszwang, der über die Hände und ihre Greif- und Tastfunktion abgespult werden kann. Deshalb besitzt die menschliche Handmotorik eine eigene Erkundungs- und Bewegungsdynamik. Sie ist ausgezeichnet durch einen motorischen Antriebsüberschuss. Ständig »will« sie etwas zu tun haben. Sie greift nach Objekten, hantiert mit ihnen herum, wiegt sie prüfend, führt sie unter Umständen zum Mund, legt sie zurück und wird nicht müde, dies fortgesetzt zu wiederholen. In der Folge von Kraftanstrengungen kennt die Hand Erschöpfungszustände, niemand würde aber sagen, »meine Hand ist explorationsmüde«. Im Gegenteil. Psychische Erschöpfung des Handbesitzers führt eher durch die sich dann einstellende Unsicherheit gegenüber der Welt und ihren diversen Gefahrenhorizonten zu einer Zunahme der Explorationswilligkeit der Hand.
Dass Unsicherheit die Handexplorationsfunktion kompensatorisch hochfahren lässt, zeigt sich bei vielen Alltagsszenen. Ungeübte Redner wissen oft während des Vortragens nicht, wohin mit ihren Händen. Sie umklammern verkrampft das Rednerpult, stecken verlegen die Hände in die Tasche, verschränken sie mit den Armen vor ihrem Brustkorb und umarmen sich dabei mit den Händen selbst, was Halt gibt, aber unsicher zurückweisend wirkt. Keine Handstellung führt dabei zu einem ausreichenden Sicherheitsgefühl gegenüber der Situation, weshalb ständig weiter durch die Hände exploriert werden muss. Die neugierigen und bewertenden Zuhöreraugen bilden im Erlebnis des Redners ein Kreuzfeuer der Blicke, dem er sich aufgrund seiner sozial exponierten Position nicht entziehen kann. Der Wunsch, sich erfolgreich darzustellen und gesehen zu werden, und die Angst vor der negativen Bewertung anderer bilden eine Versuchungs-Versagenspolarität, welche die unermüdlichen Hände während des Vortrages oft vergeblich versuchen zu verknüpfen. Selbstunsicherheit und überzogener Anspruch nach Perfektion schaukeln sich dann mitunter zu einer Redephobie hoch, in deren Folge potentiell Selbstwert stabilisierende Neuerfahrungen der eigenen
Kompetenz in sozial heiklen Situationen lebenslänglich ausbleiben. Das ist schade, da doch die Zuhörer in aller Regel sehr geduldig und wohlwollend sind und darüber hinaus die Unsicherheit eines Redners oftmals gar nicht unsympathisch finden. 60
Sitzen Menschen im Gespräch zusammen, ist es interessant zu beobachten, wer mit seinen Händen was tut. Stuhllehnen werden festgehalten, an Stiften herumhantiert, andere Objekte wie z.B. Zettel gehalten und betastet. Hände werden ineinander verschränkt und es wird signalisiert, dass im Moment nichts zu tun ist. Nebeneinander sitzende oder miteinander sprechende Personen imitieren häufig die motorische Handtätigkeit des anderen, wodurch die Zusammengehörigkeit, die soziale Serienschaltung, gezeigt wird, ohne dass dies bewusst abläuft.
Die Schließung des motorischen Kreislaufs durch das Sich-selbstan-die Hand-Nehmen beim Falten der Hände ineinander wirkt beruhigend auf uns selbst und unter Umständen auch auf die anderen. Werden die Hände an den Mund gelegt, entsteht Entspannung durch Imitation des Verzehrens kleiner Objekte.
Beruhigung kann natürlich auch geschaffen werden, indem tatsächlich die ursprüngliche Handfunktion des Zum-Mund-Führens kleiner Objekte durchlaufen wird. Auf dieser Beruhigungswelle reiten beispielsweise Flips oder Erdnüsse, die in ihrer Größe angepasst sind an das ursprüngliche und früheste Mundsorgeobjekt, nämlich die weibliche Brustwarze. Der fast suchtmachende Charakter von Naschwerk, man denke an den kaum zu unterbrechenden Verzehreifer etwa bei Flipstüten, die immer ganz leer gegessen werden müssen, hat hier ihren Ursprung. Auch der Suchtcharakter des Rauchens ist hier
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